Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 6. Juni 2005, Heft 12

Ende und Anfang

von Erhard Crome

Die letzte rot-grüne Koalition auf Landesebene wurde von den Wählern in NRW weggewählt. Bleibt die auf Bundesebene. Über die soll jetzt ebenfalls der Wähler entscheiden. Vorgezogen. Rasch, das heißt bereits in diesem Jahr. Die Schwarzen wollten sich am Wahlabend in diesem Triumph sonnen: Endlich den Sozen NRW abgetrotzt, nach vier Jahrzehnten! Und da erklärten der Kanzler und sein Müntefering, daß die SPD die Auflösung des Bundestages will und vorgezogene Neuwahlen. Nun machte Schröder die Schlagzeilen, kurz darauf aber auch Lafontaine und Gysi. Wir bekommen einen Wahlkampf, der aus sich selbst Dynamik erhält. Und niemand weiß, wohin diese führen wird. Jedenfalls hat Bush II den nächsten Krieg noch nicht angezettelt. Es wird im deutschen Wahlkampf also eher um Soziales und Arbeit gehen, oder genauer: um das Asoziale der bisherigen Politik und die Arbeitslosigkeit.
Glauben die Sozialdemokraten eigentlich allen Ernstes, daß sie diese Wahl gewinnen können? Oder geht es vielmehr darum, die Partei zusammenzuhalten, die Stammwähler zurückzugewinnen und sich geordnet in die Opposition zurückzuziehen? Lieber ein Ende mit Schrecken als einen Schrecken ohne Ende? Entweder Schröder schafft es noch einmal, und all die anderen, die für diese Politik verantwortlich sind, oder er wird von seiner Partei davongejagt: Alles auf eine Karte! Jetzt oder nie wieder! Alles oder nichts! Wer hat das entschieden? Schröder, der Hasardeur, oder Müntefering, der Stratege? Wir wissen es noch nicht. Nach den Wahlen werden wir klüger sein. Nur eines ist gewiß: Die Sozialdemokratie wird fortbestehen, in welcher Gestalt auch immer.
Die anderen aber, die Schwarzen und die Gelben, sie wollen nun den Sieg. Sie werden den Lagerwahlkampf machen, den die Sozen durch deutliche Distanzierung von den Grünen gerade vermeiden wollen. Im Kern aber geht es nicht um eine andere Politik, im Gegenteil: Die Reformen, wie der Sozialabbau euphemistisch geheißen wird, sollen um so forscher fortgesetzt werden. Von der Streichung der Pendlerpauschale ist schon mal die Rede. Die Tarifverträge sollen weg. Rot-Grün hatte das ganze System schon ausgehöhlt, nun soll es weg. In der Gesundheits-»Reform« wird dann wohl das Kopfgeld kommen. Den Schritt dorthin hatten die Schwarzen in Gestalt der »Praxisgebühr« via Vermittlungsausschuß in die vorige »Reform« reingedrückt, als Vorgeschmack.
Der alte Geißler hatte vor einiger Zeit noch schwadroniert, Angela Merkel hätte die Wahl zwischen einem »warmherzigen« Konservatismus – er plädierte für diesen – und der deutschen Thatcher. Sie selbst hat sich dem Bekunden nach wohl für letzteres entschieden. Es wird schlimmer kommen, und die Sozialdemokraten, die dies in den nächsten Monaten drohend beschwören werden, um sich als das kleinere Übel anzupreisen, werden recht behalten. Nur: Sie haben das Schlimme getan, das in jenem Schlimmeren seine Vollendung suchen wird. Das Schlimmste ist nur: All die Arbeiter und »kleinen Leute«, die jetzt in NRW die CDU gewählt haben, glauben wohl tatsächlich, daß mit der eine Besserung für sie kommen werde. Und genau das wird nicht kommen. Die ganz große Koalition aus Rot-Grün und Schwarz-Gelb ist sich in den Grundlinien des Neoliberalismus völlig einig. Differenzen bestehen nur beim Wie und beim Tempo.
Im Hintergrund steht etwas anderes. Immanuel Wallerstein, der berühmte alte Weltwirtschaftshistoriker, hatte schon vor zwei Jahren (WeltTrends, Nr. 40, Herbst 2003) auf ein zumeist vergessenes Grundproblem aufmerksam gemacht: Im ideologischen Diskurs des Neoliberalismus werden bei vergleichenden Betrachtungen der Arbeitskosten gewöhnlich die Löhne und die indirekten sozialen Kosten einfacher Arbeiter gegenübergestellt. (Daraus resultierten die Sozialdemontagen in Deutschland.) Übersehen wird dabei aber gern, daß auch die Einkommen der leitenden Angestellten, die der Manager eingeschlossen, sowie der Freiberufler – all der Rechtsanwälte und Beratungsfirmen, die um die Firmen gruppiert sind – Kosten darstellen. Die Realeinkommen all dieser Spitzenmanager sind in den USA um ein Vielfaches höher als in Westeuropa und Japan.
Damit ist ein gravierender Unterschied zwischen den USA und den beiden Konkurrenten beschrieben. Ein wenig fühlt man sich an die Zeit der »ursprünglichen Akkumulation« erinnert. Einst wurden in den Kolonialstaaten Spanien und Portugal die Kolonialbeute und damit die Zukunft »verfressen«, während in England und Holland die aus den Völkern der Kolonien herausgepreßten Mittel in einen exzessiv aufblühenden Kapitalismus investiert wurden. Heute steht die Welt vor einem neuen Technolgiezyklus, an dem ebenfalls nur beteiligt sein wird, wer rechtzeitig akkumuliert.
Doch die Akkumulationskraft der USA wird seit Jahrzehnten gezielt geschwächt. Langfristig kann es deshalb im Musterland des Kapitalismus zu einem Verfall der Profitraten kommen – anders als in Westeuropa und Japan, wo der Kapitalismus weniger auf Endzeit gestimmt betrieben, also weniger verbraucht und mehr investiert wird.
Aus diesem Dilemma herauszukommen, gab es theoretisch zwei Möglichkeiten. Die eine, den Abfluß an das obere Zehntel oder Fünftel der Bevölkerung in den USA zu vermindern, funktioniert jedoch nicht, weil jede USA-Regierung, die dies versuchte, prompt ihre wichtigsten Unterstützer verlöre. Blieb die andere, nämlich den Oberschichten und den Regierenden in Japan und Deutschland Vorhaltungen zu machen, sie sollten endlich ihre altmodische Politik aufgeben und »ordentliche« Renditebedingungen schaffen, also den Abfluß an die Oberschichten auf US-amerikanisches Maß anheben.
Das ist der Inhalt des Angriffs, der seit Mitte der 1990er Jahre läuft. Die Gier der Ackermänner ist natürlich auch hierzulande unendlich, insofern mußten sie sich das nicht zweimal sagen lassen; wenn schon Heuschrecke sein, dann doch bitte selbst.
Dem altmodischen Kohl war das noch suspekt, und er tat eher nichts gegen das, was dann »Reformstau« geheißen wurde. Schröder, jung, dynamisch und zu allem fähig, wollte »besser« sein. Sein Anfangssatz, nicht »gegen die Wirtschaft« Politik machen zu können oder zu wollen, bedeutete am Ende die Kapitulation vor eben jener Gier der Oberklassen.
Schröder ist jetzt am Ende, der neoliberale Zeitgeist jedoch noch nicht. Frau Merkel, nun ihrerseits jung, dynamisch und zu allem entschlossen, wird die Fortsetzung praktizieren, schneller, weiter, höher. Die Wähler aber, die eben selbst den blassen Rüttgers zum Arbeiterführer gemacht haben, meinen aber eigentlich nicht dies. Sie wollen weiter die Verantwortung des Sozialstaates, auch wenn sie jetzt CDU wählen. So wird im nächsten Enttäuschungszyklus die Frage nach einer wirklichen Alternative dräuend hervorbrechen.
Um dann jedoch bereitzustehen, muß die Linke sich jetzt neu aufstellen. Das ist es, woran die real existierenden Akteure links von der SPD sich heute messen lassen müssen. Es gibt Zeiten, die Riesen brauchen, schrieb einst ein bärtiger Mann aus Barmen.