Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 9. Mai 2005, Heft 10

Papst-Wahn

von Matthias Käther

Das mahnt an Kreuzzug und Turnei,
An Minne und frommes Dienen,
An die ungedruckte Glaubenszeit,
Wo noch keine Zeitung erschienen.
Heine

Mit der Wahl von Joseph Ratzinger zum neuen Papst erreicht das Zeitalter der Restauration, das 1990 begann, einen neuen Höhepunkt.
Eine interessante These? Die zu verteidigen wäre? Ach, wann denn? Man kommt ja heutzutage gar nicht dazu.
Denn bezeichnend für unseren Zeitgeist ist, ähnlich wie vor 190 Jahren, daß man gar nicht ohne weiteres in eine ernsthafte Diskussion eines brisanten Themas einsteigen kann, sondern zuvor erst einmal überhaupt die Diskussionswürdigkeit verteidigen muß. In diesem Punkt, liebe Freunde, hinken wir der vielgeschmähten Republik von Weimar arg hinterher. Bezeichnend für Restaurationsepochen ist, daß die Repräsentanten ihres Geistes sich nicht angreifen lassen, weil sie die Probleme an sich leugnen. Sozialistische Ideen? Hat es nie gegeben. Ungerechtigkeit in der Gesellschaft? Hat es immer gegeben. Restauration suggeriert immer, daß die Dinge eigentlich nicht diskutierenswert sind, sie sind schon dadurch, um einen Ausspruch von Hegel zu pervertieren, vernünftig, indem sie einfach existieren.
Da stirbt also das Oberhaupt der katholischen Kirche. Nach langem Leiden. Kameras richten sich viele Stunden lang auf sein Sterbezimmer. Vor Wochen durfte noch offen darüber geredet werden, ob es denn überhaupt ethisch vertretbar sei, einen parkinsonkranken, kaum noch amtsfähigen Papst amtieren zu lassen. Nun stirbt er also – und diesen Sturm von Lobgehudel, der jetzt losbricht, hat die Welt vermutlich noch nicht gesehen. Ich behaupte das mal völlig unbekümmert in einer Zeit, in der man neuerdings von jedem Hasenfurz als einem Jahrhundertereignis spricht und nicht ahnt, wie lächerlich man sich damit vor späteren Generationen macht. Vor allem, wenn man bedenkt, daß das Jahrhundert erst fünf Jahre alt ist. Es ist, als ob man 1913 von der Balkankrise als »Jahrhundertkrieg« gesprochen hätte.
Auch so ein Problem, das es nicht gibt … Wo war ich? Ah ja: Also der Jahrhundertpapst stirbt seinen Jahrhunderttod, und herein bricht eine Jahrhundertschleimerei – ein erzreaktionärer Mann mit vielen, nennen wir es vorsichtig: Fehlern, wird verklärt zum Heiligen. Und zwar nicht nur, das dürfte eine neue Qualität sein, von den Katholiken, was ja ihr gutes Recht wäre, sondern auch von den sonst doch recht weltlich daherkommenden Medien. Ein ARD-Kommentator entblödete sich nicht, während der Direktübertragung der Trauerfeier vom »größten Ereignis in der Geschichte des Christentums« zu sprechen. Nun bin ich zwar kein Christ, aber selbst ich fühle als gut erzogener Mensch mit Resten christlicher Ethik im Leib die Blasphemie in diesen Sätzen. Das größte Ereignis, liebe Christenfreunde, war das nicht, ähem, Tschuldigung, wenn ich alter Nostalgiker auf ein so verstaubtes Nicht-Jahrhundertereignis anspiele: die Kreuzigung?
Sagte ich eben »selbst ich« sei verletzt? Verblüffenderweise fühlen sich viele Christen im Bekanntenkreis durch solche Superlative nicht verletzt, sondern geschmeichelt. Ich muß bei der Bibellektüre irgendwas falsch verstanden haben.
In solchen Streitereien kommt man mir dann immer mit der Leierkastenmelodie: Aber die Gefühle der Katholiken! Wie kannst du es wagen, in solchen Augenblicken Kritik anzumelden? Ein altes Totschlagargument. Tucholsky schreibt 1929 im Brief an eine Katholikin: »Die Kirche rollt durch die neue Zeit dahin wie ein rohes Ei. So etwas von Empfindlichkeit war überhaupt noch nicht da. Ein scharfes Wort, und ein ganzes Geheul bricht über unsereinen herein: Wir sind verletzt! Wehe! Sakrileg! Unsere religiösen Empfindungen … Und die unseren –?«
Ich weiß nicht, was Sie für Leute kennen, meine Bekannten haben jedenfalls im Augenblick fast alle einen an der Waffel, und ich denke darüber nach, nach Grönland auszuwandern. Solche Sätze wie die da oben dürften heute in keiner großen Zeitung gedruckt werden. Tucholsky könnte sich trollen. In der Weimarer Republik durfte man noch. Wer sich aggressiv in aktuelle Diskussionen einmischt, muß darauf gefaßt sein, daß man sich mit ihm auch ohne Samthandschuhe beschäftigt. Kindergequäke ist fehl am Platz. So streitet man nicht unter Erwachsenen. Wers nicht aushält, verkrieche sich. Aber halte auch den Mund. Diese katholische Kirche und dieser verstorbene Papst hat sich in so ziemlich alles eingemischt, in das man sich irgendwie einmischen kann. Also: Was schreit ihr?
Ich bin am Tag der Papst-Beerdigung im Kulturradio gewesen, als Musikredakteur. Und geriet in einen Streit mit der sonst sehr netten Wortredaktion. Streit? Mit eisiger Verachtung wurde ich gestraft. Die Tendenz ging in den Kommentaren nämlich dahin, zu fragen, warum denn Rußland und China nicht ihre Vertreter geschickt hätten. Ich fragte: Ja, wieso sollten sie auch? Diese Länder haben unmittelbar mit dem Katholizismus nicht viel zu tun. Muß man sich jetzt schon dafür rechtfertigen? Wenn der Dalai Lama stirbt, wird Bush und Schröder auch zur Beerdigung fahren? Immerhin: auch ein Vertreter einer Weltreligion … Es ist die dümmste Kleingärtnervereinsmentalität, die sich da breitmacht: Wir waren alle da, wo warst du?
Nebenbei bemerkt, die ARD übertrug einen Tag nach der Papst-Beerdigung (ein katholisches »Großereignis«) live die Hochzeitsfeierlichkeiten im britischen Königshaus (ein monarchisches »Großereignis«), vermutlich wieder eine Jahrhundertfeier, was, Kollegen? Wilhelm, ick hör dir trapsen. Für eine Republik haben wir erstaunliche Vorlieben. Niemandem fällt dies Getue auf in seiner Lächerlichkeit. Wie sagt Adam immer so schön in Mark Twains Satire: »Paradies? Ich hau ab hier.«
Nun also Ratzinger. Leider nicht nur eine der reaktionärsten Gestalten der Katholischen Kirche, sondern auch noch ein Deutscher! Na herzlichen Glückwunsch auch! Das wird die ohnehin recht dürftige kritische Reflexionfähigkeit der Nation, die sich derzeit etwa auf dem Niveau eines imitationstalentierten Nymphensittichs befindet, noch weiter eintrüben. Interessant ist zunächst wieder, daß alle Kritik lauwarm und halbherzig ist, und daß niemand nebenbei erwähnt, was doch äußerst wichtig ist: Die Glaubenskongregation, der Ratzinger vorsteht, ist die Nachfolgerin der Inquisition. Das ist keine polemische Übertreibung, sondern eine Tatsache, die auch noch der bravste Kirchenexperte bestätigen wird. Und so schreiben die Journalisten Michael Baigent und Richard Leigh auch folgerichtig in ihrem Buch über die Geschichte der Inquisition (1999): »Kardinal Joseph Ratzinger ist der Großinquisitor unserer Zeit.«
Und der wird Papst! Gut, da können wir nichts dafür. Und doch wird die Papstwahl umjubelt und beklatscht. Deutschland ist, wie immer, wenn es nicht nachdenkt, und das kommt bekanntlich ziemlich oft vor, zunächst erstmal »stolz«. Keine Ahnung, auf welche Leistung. (»Wir sind Papst«! titelte die Bildzeitung und ahnte gar nicht, wie recht sie da hat.) Ist Ihnen das auch aufgefallen: Wieviel neuerdings in Kirchenangelegenheiten geklatscht und gejohlt wird? Bei der Beerdigung des alten Papstes wurde applaudiert, als trüge man einen Schmieren-Hamlet von der Bühne, bei der Wahl des neuen wurde eifrigst Beifall gespendet: Katholizismus als Kirmesveranstaltung, Religion als Spektakel-Oper, Ethik als Oktoberfest. Ein neues Zeitalter der Wurschtigkeit dämmert herauf, und hier, in diesem Juchu-Gekreisch, das doch früher eher der Huldigung von Diktatoren und Pop-Stars vorbehalten war, verstummt die Glaubwürdigkeit der katholischen Philosophie endgültig. Denn wo angesichts angeblich heiliger Dinge schlechtes Theater gespielt wird, spürt man: Die Landschaften von morgen sind nichts anderes als bepinselte Kulissen. Dahinter scheppert die alte rostige Bühnenmaschinerie der Reaktion.