Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 9. Mai 2005, Heft 10

Herrn Andersens Gefühle

von Renate Hoffmann

Die erste Liebe ereilt jeden. Hans Christian überkam sie während einer Sommerreise, die ihn über Jütland und Fühnen führte. In einer kleineren Stadt auf Fühnen (Faaborg), so erzählt er, habe er ein »reiches Haus« besucht. Und dort sei vor ihm »plötzlich eine neue Welt« aufgegangen, »die so groß war und doch in vier Zeilen … Raum hatte.« Die »neue Welt« hieß Riborg Voigt. Eine Frau mit ebenmäßigen, ein wenig melancholischen Zügen; sehr jung, sehr anziehend – und Schwester eines Studienfreundes von Andersen.
Der »Vierzeilen-Raum« verrät gleich zu Beginn die sanfte Fessel, die ihn umfing: »Zwei braune Augen sah mein Blick, / D’rin lag meine Welt, meine Heimat, mein Glück …« Es lag sozusagen die Erfüllung seiner Dichterseelenwünsche in diesen Augen. Oder doch die Verheißung einer Erfüllung. Hans Christian will und will und will … für Riborg das Verseschreiben aufgeben; weiterhin studieren; Prediger werden. Doch die Schöne will nicht. Gleichwohl schmeichelt ihr sein Werben.
HCA übergeht Riborgs Verlöbnis, das sie an einen jungen Mann bindet und trägt ihr seine ernsthaften Absichten brieflich vor. Die junge Dame lehnt ab. Zuerst mündlich. Dann übersendet sie ihm ein diesbezügliches Billett. Tragikomische Einlage: Nach des Dichters Ableben fand man Riborgs Nachricht in einem Lederbeutel, den Andersen an einem Schnürchen um den Hals trug. Vorsorglich hatte er jedoch verfügt, daß dieses Blatt ungelesen zu verbrennen sei. Die Frage lautet nun: Obsiegte bei der Nachlaßverwaltung die Pietät oder die Neugier?
Hans Christian traf die Angehimmelte in späteren Jahren wieder und ließ ein wenig Selbstmitleid fließen: »… sie ahnte vielleicht nicht einmal, wie tief mein Gefühl war, welche Einwirkung es auf mich hervorbrachte. Sie wurde eines braven Mannes vortreffliche Frau, eine glückliche Mutter; Gottes Segen über sie!« Der »Gottessegen« für Riborg erweist sich als fadenscheiniger Wunsch. Kurz nachdem er ihr mit Mann und Kindern auf einem Fest begegnet war, schrieb Hans Christian Andersen ein Märchen nieder. Die Liebesleute (Der Kreisel und der Ball). Es endet traurig, verletzt und verletzend. »Der Kreisel redete nie mehr von seiner alten Liebe; die hört auf, wenn die Herzliebste fünf Jahre in einer Rinne gelegen und Wasser gezogen hat, ja, man kennt sie nimmer wieder, wenn man ihr im Mülleimer begegnet.«
Hätte Herr Andersen seiner ersten Liebe noch einen Vierzeilen-Abschluß nachgesandt, so wäre es gewiß ein Klagereim geworden. Und wie es einem Märchenschreiber geziemt, hieße der Finalsatz wohl: Die Geschichte ist aus, / alle geh’n nach Haus’.