Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 25. April 2005, Heft 9

Zurück vor 1789?

von Erhard Crome

Die bürgerlichen Medien schienen für kurze Zeit irritiert. Millionen Menschen nach Rom zur Trauer angereist, dreihunderttausend auf dem Petersplatz, um die Zeremonie direkt zu erleben. Das ließ sich nicht allein mit der Rolle Wojtyl⁄as beim Sturz des Kommunismus oder der allgemeinmenschlichen Neugier erklären. Rasch wurde mit Zahlen jongliert: Wieviel Menschen bei der Love Parade in Berlin waren, als sie noch als Renner galt, oder wieviel Millionen Menschen an den Fernsehern hocken, um Prinz Charles beim Zweitheiraten zu observieren. Da wurde dann gefolgert, das in Rom sei alles nicht so wichtig gewesen.
Aber vielleicht sollte man es doch als Menetekel lesen. Die derzeitige spätbürgerliche Gesellschaft produziert nur Güter, immer schneller und immer mehr, dazu Arbeitslose, Arme und Superreiche. Der Gesellschaftsvertrag, der die Klassenkämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts beenden hatte sollen, wurde von oben aufgekündigt. Die Sinnleere der aktuellen Geschäftigkeit wird immer augenfälliger. Die Behauptung, etwa zu Schröders Agenden und Hartz IV, später werde alles besser, wird ohnehin von niemandem mehr geglaubt, eher als Verhöhnung der Opfer empfunden. In Polen leben heute über fünfzig Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Welch ein Resultat der Einführung des Kapitalismus!
Der Spätkapitalismus, mit dem wir es jetzt zu tun haben, schuf eine gigantische Produktionsapparatur, die außer sich selbst und der allenthalben waltenden Gier nach Profit allerdings keinen Sinn hat, einen solchen weder erwartet, noch braucht, noch produziert: In einem geistigen, einem moralischen Sinne ist dahinter nichts, das Nichts. Deshalb die sich auch in den Kernlanden des Westens ausbreitende Sehnsucht nach dem Anderen, das sich etwa im Papst beziehungsweise im Glauben verkörpert. So gesehen, gehört aber die öffentliche Heirat eines europäischen Kronprinzen nicht in eine Reihe mit der ebenfalls sinnlosen Love-Parade, sondern mit der Papst-Beisetzung. Es ist das Angebot der Welt von vorgestern, die Alternative zu der Welt von heute zu sein, die recht eigentlich die Welt von gestern ist.
Von Wojtyl⁄a wurde berichtet, daß er nach dem Sturz des Kommunismus gesagt habe: Nachdem der Kommunismus besiegt sei, gehe es gegen den Liberalismus. Das aber ist das Gesellschaftsangebot von vor 1789. Nur wissen die meisten Menschen heute nicht mehr, was die Gründe für jene Revolution waren, die eben nicht nur das Königtum der Franzosen, sondern auch die Heilige Inquisition stürzte. Die Heilige Kongregation, der heute ein Deutscher, der Kardinal Ratzinger vorsteht, war damals nicht nur eine Einrichtung zur Interpretation von Worten, sondern sie verursachte Taten wie Folter und Scheiterhaufen.
Gehen wir einmal davon aus, daß der berühmte Wirtschaftshistoriker Wallerstein recht hatte, als er begründete, das derzeitige kapitalistische Wirtschaftssystem werde keine fünfzig Jahre mehr existieren. Und was kommt dann? Werfen wir einen Blick auf eine andere Welt des Untergangs: In den vereinfachenden Geschichtsbüchern stehen Kurzgeschichten vom Untergang des Weströmischen Reiches, der dann folgenden Kaiserkrönung Karls des Großen, und dann sind wir schon bald im Mittelalter mit Minnesang und Kreuzzügen.
Das Römische Reich aber starb nicht an einem Tag. Dazwischen lagen Jahrhunderte. Papst Gregor I., der dann »der Große« genannt wurde, agierte in jener Zeit, 590 bis 604 war er Papst. Italien lag darnieder. Ein zwanzigjähriger Krieg hatte das Land verwüstet – nach Meinung mancher Historiker stärker als Deutschland durch den Dreißigjährigen Krieg. Gotenkriege, Plünderungen der Franken, Verwüstungen durch die Alemannen hatten keine Stadt, kein Dorf, keinen Bauernhof verschont. Dann kamen die Langobarden. Mailand, zuvor eine blühende Großstadt, ward eine Wüstenei. Rom war menschenleer gemordet und mußte neu besiedelt werden. So waren die Kirche, ihre Klöster und Orden der letzte Halt. Gregor organisierte die Unterbringung und Versorgung von hunderttausenden Menschen, befaßte sich mit der Neuorganisation des Bildungswesens, mit Melioration und Wiederbelebung der Landwirtschaft. Der Sinn der Kirche lag für ihn darin, in diesen schweren Zeiten das Leben der Mühseligen und Beladenen zu retten und zu erleichtern.
Und das blieb ein Teil von Kirche, zu allen schweren Zeiten, trotz Ablaßhandels, in manchen Jahrhunderten hoffärtiger päpstlicher Machtpolitik und Völlerei von Prälaten. Diese Kirche hat fast zweitausend Jahre Erfahrung mit Politik und Diplomatie, einen Apparat, ein gewaltiges Mobilisierungsvermögen – man denke nur an all die Bilder von den weltweiten Auftritten Johannes Pauls II. – und ein Programm, das niemand überbieten kann: Brüder – überm Sternenzelt/Muß ein lieber Vater wohnen. Das dichtete der große Friedrich Schiller, wahrlich kein Kirchenmann, in seiner Ode an die Freude, die aus der 9. Symphonie Ludwig van Beethovens jeder kennt. Das ist Teil unseres Alltagsbewußtseins, selbst wenn diese Idee verdrängt ist.
Am Weltsozialforum in Porto Alegre 2005 nahmen etwa 150 000 Menschen teil. Das wäre etwa die Hälfte derer, die allein an der Messe für Johannes Paul II. auf dem Petersplatz teilnahmen. Und jenes Sozialforum war etwa ein Jahr lang vorbereitet worden. Die Kirche in Rom fand innerhalb weniger Stunden die zehntausenden Helfer und Schlafplätze, um die Millionen Pilger zu versorgen.
Überlegt man also, was uns bevorsteht, kommt ein beklemmendes Gefühl auf: Die hohle Welt des derzeitigen Kapitalismus wird zu Recht zugrunde gehen. Aber die Linke sollte sich nicht zu früh freuen. Die Wahrscheinlichkeit, daß jene alte, erfahrene Macht erneut der Hort der Neukonstituierung wird und wir vor 1789 landen, wie es der verstorbene Papst wünschte, ist größer, als daß die Linke eine »andere Welt« schafft. Es sei denn, sie formiert sich neu, programmatisch, politisch und als Sinnstifter. Davon aber ist, zumindest in Europa, derzeit wenig zu sehen, am allerwenigsten Sinn.