von Mario Keßler
Als er am 16. Februar 1904 in Milwaukee, Wisconsin, geboren wurde, hieß der US-Präsident Theodore Roosevelt und der Krieg gegen Spanien, der die Weltmachtstellung der USA begründete, lag erst sechs Jahre zurück. Am 17. März 2005 starb er in Princeton. Die Politik des jetzigen Präsidenten George W. Bush hatte in ihm einen scharfsichtigen Kritiker. Amerika könne einen scheinbar leichten militärischen Sieg im Irak erringen, doch die Lage dort nicht unter Kontrolle bekommen. Mehr noch: die US-Politik erleide dauerhaften Schaden, sollte der Krieg vom Zaune gebrochen werden. Diese Warnung stammte vom Beginn des Jahres 2003. Der sie aussprach, war längst zu Lebzeiten eine Legende geworden: George Frost Kennan. Er wurde 101 Jahr.
Der Sohn eines Rechtsanwaltes verbrachte seine Kindheit im Mittleren Westen der USA, aber auch – dank seiner bildungsfreundlichen Eltern – in Kassel. Dort lernte er Deutsch, später sechs weitere Sprachen. Nach einer anfänglichen Ausbildung an der Militärakademie seines Heimatstaates Wisconsin studierte er Geschichte in Princeton. 1925 entschied er sich für den diplomatischen Dienst. Zunächst war er Vizekonsul in Genf und in Hamburg, dann wurde er für ein Studium der Slawistik an der Berliner Universität freigestellt. Wie sein Namensvetter, ein Cousin seines Großvaters, wurde er ein Rußland-Experte. Seit 1933 war er in verschiedenen Missionen an der US-Botschaft im Moskau tätig – erst Präsident Franklin Delano Roosevelt hatte kurz vorher diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion hergestellt. Unter den Botschaftern William Bullitt, Averell Harriman und Walter Bedell Smith bekleidete Kennan verantwortliche Positionen, 1952 war er für eine kurze Zeit dann selbst Botschafter in Moskau.
In den Jahren 1947 bis 1949 war Kennan in Washington Leiter des Planungsstabes im Außenministerium. Damals konzipierte er die Politik des Containment, der versuchten Eindämmung des sowjetischen Einflusses in der Welt. Instrumente der Containment-Politik wurden einerseits militärische Bündnisse, vor allem die NATO, aber auch die CENTO und die SEATO im Nahen und Mittleren Osten beziehungsweise in Südasien. Andererseits sollte eine massive Wirtschaftshilfe vor allem den westeuropäischen Ländern helfen, die sozialen Probleme der Nachkriegsgesellschaft so zu lösen, daß kommunistische Parteien keinen Zulauf erhalten würden. Obwohl sich das militärische Paktsystem nur im Bereich der NATO halten ließ, erwies sich auf lange Sicht diese Strategie als langfristig erfolgreich, da die Wirtschaft der USA viel stärker war und blieb als die durch Krieg, doch auch durch die Folgen des Stalinismus stark mitgenommene Sowjetgesellschaft. Das Programm dieser Strategie formulierte Kennan erstmals im Juli 1947 unter dem Pseudonym »Mr. X« in einem Aufsatz für die Zeitschrift Foreign Affairs – doch die Identität des Verfassers blieb nicht lange geheim.
In den Jahren 1961 bis 1963 war Kennan Botschafter in Belgrad und erlebte dort eine ganz andere Art von Kommunismus als im Sowjetreich. Doch überraschte er nicht erst seitdem durch eine sehr differenzierte Bewertung der vielfältigen Strömungen im Marxismus und Kommunismus. 1956 war er an seine alte Alma mater in Princeton berufen worden, die eine der besten Universitäten der USA war. Dort wurde er zu einem Hochschullehrer, der sich von den Stereotypen und vom Jargon des Kalten Kriegs frei hielt.
Wie es sich damals für einen Professor an einer Spitzenuniversität der USA gehörte, publizierte Kennan unermüdlich Bücher. Zu seinen bekanntesten von siebzehn Werken gehören American Diplomacy 1900-1950, Russian Leaves the War und Soviet Foreign Policy under Lenin and Stalin. Seine 1967 und 1975 veröffentlichten zweibändigen Memoiren erhielten (wie auch Russia Leaves the War) den Pulitzer-Preis, die höchste amerikanische Auszeichnung für literarische Prosa. Sie wurden auch in der Bundesrepublik ein Erfolg, und 1982 erhielt der Gelehrte und Politiker den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Je älter Kennan wurde, desto kritischer beurteilte er die Regierungspolitik seines Landes. 1968 zeigte er Verständnis für eine Reihe von Anliegen der protestierenden Studenten, die für die Beendigung des Vietnam-Krieges und für die Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung auf die Straße gingen. Aber er warnte vor einer Mystifizierung des Guerilla-Krieges und besonders vor der Verherrlichung Mao Tse-Tungs. Seine Opposition gegen die Sowjetunion habe niemals die Befürwortung eines Angriffskrieges beinhaltet, betonte Kennan immer wieder. Vietnam habe ihm eine Lehre erteilt, erklärte er 1976 in einem Interview. Die Auseinandersetzung der Systeme sei ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu führen. Hierzu gehöre der Wettstreit in den Wissenschaften, der zugleich Möglichkeiten der Kooperation biete. In diesem Sinne war Kennan unermüdlich aktiv. So war er Mitorganisator einer Reihe von Studiengängen an Universitäten, die sich mit der Gesellschaft der Sowjetunion und ihrer Verbündeten befaßten. Das Kennan Institute for Advanced Russian Studies in Washington sei wohl nach ihm benannt, wurde er einst gefragt. »Als die Kollegen dem Institut diesen Namen gaben, hatten sie wohl an beide George Kennans gedacht«, antwortete er.
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