Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 28. März 2005, Heft 7

Putinisazija – Putinschtschina

von Wolfgang Geier

Im Russischen bezeichnet man einen Vorgang, in welchem eine politische Person ihrer Amtszeit »den Stempel aufdrückt«, mit der Endung -sazija, also -sierung. Das Ergebnis, der daraus entstehende Zustand wird mit -schtschina beschrieben, wofür es keine genaue deutsche Entsprechung gibt. Zur Veranschaulichung können der »Große Terror«, die Jeschowschtschina 1936 bis 1938 und die »Entstalinisierung«, die Chruschtschowschtschina zwischen 1956 und 1964 genannt werden.
Der gegenwärtige deutsche Regierungschef hat seit einiger Zeit einen Freund. Dieser Freund ist seit seinem Amtantritt energisch bestrebt, eine Konstante der rußländischen Geschichte nun in den politischen Institutionen und Strukturen der Föderation konsequent auszubauen und unter neuen/alten Vorzeichen und Bedingungen konsequent zu »vollenden«: die ungebrochene Kontinuität der Selbstherrschaft von den Zaren über die Generalsekretäre bis zu den Präsidenten. Was seinem Vorgänger mangels Charakterstärke und geordneter Lebensführung ziemlich mißlang, will der Nachfolger besser machen.
In der Institution des Präsidenten des Rußländischen Föderation bündelt ihr Inhaber alle Merkmale und Maßnahmen der Selbstherrschaft. Der Vorgang der Putinisazija aller Bereiche des politischen, staatlichen, rechtlichen, gesellschaftlichen Lebens weist auf den absehbaren Zustand einer Putinschtschina hin.
In der Verfassung der Rußländischen Föderation vom Jahre 1993 und den inzwischen vorgenommenen Novellierungen und Ergänzungen wird im Kapitel 4, Art. 80 bis 93, die Stellung des Präsidenten der Föderation festgelegt. Die hier enthaltenen autokratischen Elemente wurden in den vergangenen Jahren weiter verstärkt und ausgebaut. Der Präsident hat in der Duma mit dem Geeinten Rußland eine Partei, die eigens zum Zwecke der parlamentarischen Sicherung seiner Herrschaft geschaffen wurde. Sie wird kommandiert und kontrolliert von engsten Vertrauten und Mitarbeitern des Präsidenten wie dem früheren Innenminister und jetzigen Fraktionschef Gryslow, der sich wiederum wie der Präsident auf die Hausmacht des Moskauer Oberbürgermeisters Luschkow stützen kann.
Die faktische Entmachtung der 89 Verfassungssubjekte, denen wenigstens formal gewisse Selbständigkeiten zustanden, begann schon vor längerer Zeit durch die Einsetzung von sieben Generalgouverneuren; fünf waren oder sind Generale. Die Föderation ist de facto ein Staatswesen, in dem ein Präsident mittels Generalgouverneuren herrscht, unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts analog zur Machtorganisation zaristischer Selbstherrschaft im 19. Jahrhundert.
Zwischen dem im Grunde unverändert gebliebenen Militärisch-Industriellen-Komplex (MIK) und den mit dem Zerfall der UdSSR entstandenen oligarchisch-mafiokratischen Strukturen der gesamten Rohstoffbasis für die Energieproduktion bestehen »Interessenkonflikte«, und der Präsident scheint entschlossen zu sein, sie im Sinne seiner Machterhaltung und der Dominanz des MIK zu »lösen«. Der Schlag gegen den Oligarchen Chodorchowski erfolgte nicht aus juristischen Gründen, sondern um den »Herren des Öls und des Gases« und den von ihnen beherrschten Imperien zu zeigen, wer der »Herr im Hause« – der Chosjain nach »guter alter russischer Tradition« – ist. Stalin ließ sich übrigens (gern) so titulieren, und nicht jeder, der dies wagte, landete dafür in der Lubjanka oder im GULag.
Die Rußländische Föderation ist nach Meinung internationaler Kommentatoren von einer der beiden Super- und Weltmächte zu einer Großmacht »abgestiegen«; manche haben sie sogar als »Schwellenland« bezeichnet. Das ist mit dem Selbstverständnis des gegenwärtigen Präsidenten und seiner Anhänger von Selbstherschaft, russischer Größe und Sendung nicht vereinbar. Deshalb ließ er kürzlich die Umrisse eines gewaltigen neuen, höchsttechnologischen Rüstungsprogramms verkünden, in dem von »völlig neuartigen Waffensystemen« die Rede war. Es wird sich dabei kaum um neue konventionelle Waffen, also bessere, schnellere Panzer und weitertragende Geschütze oder ähnliches handeln. Die Energie für die Produktion und den Betrieb dieser Waffen müssen die Öl- und Gasoligarchen sichern, deshalb müssen sie unter Kontrolle des Präsidenten sein. Erfunden, entwickelt und hergestellt jedoch werden diese Waffensysteme im MIK, einer Bastion des Präsidenten.
Im übrigen beginnt man in der Umgebung des Präsidenten wieder einmal laut über neue strategische Optionen, Positionen, Strategien und dergleichen nachzudenken – sowohl in globalen (Vorder- und Mittelasien) als auch in regionalen (Kaliningradskaja oblast) Dimensionen, einschließlich darüber, wie man künftig mit störenden Entwicklungen im »nahen Ausland«, etwa in der Ukraine, umgeht.
Zu diesen Merkmalen kommt das äußere Dekorum, die Attitüden der Selbstinszenierung.
Der Präsident schreitet über lange rote Teppiche durch goldfunkelnde Kremlsäle zu Empfängen ausländischer Staatsgäste oder einfach nur zur Kabinettssitzung, wo er dann die achtungsvoll stehenden Mitglieder mit steinernem Gesicht und hölzernen Gesten zum Platznehmen auffordert. Er schreitet durch Spaliere von präsentierenden Soldaten in kaiserlich-zaristischen Gardeuniformen des 19. Jahrhunderts. Der doppelköpfige byzantinische Zarenadler und die der niederländischen von Peter I. nachgebildete russische Trikolore sowie andere Insignien der Selbstherrschaft einschließlich des Patriarchats der Russischen Orthodoxen Kirche und ihres Oberhauptes Alexij II. sind allgegenwärtig. Die Putinisazija schreitet voran – auf dem Wege zur Putinschtschina.