Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 14. März 2005, Heft 6

Ein Reiseleben

von Renate Hoffmann

Daß Hans Christian A. seine Autobiographie Märchen meines Lebens ohne Dichtung nennt, verwundert niemanden. Hört man den Namen, so wachsen der Phantasie Flügel: »Die Sonne war gerade untergegangen, als die kleine Seejungfrau den Kopf über das Wasser erhob. Aber die Wolken glänzten noch wie Rosen und Gold … Da lag ein großes Schiff mit drei Masten …« Oder: Im Garten des chinesischen Kaisers singt eine Nachtigall. »Es klingt wie gläserne Glocken«, sagte der Kavalier.
Obwohl der Dichter mehr als hundertfünfzig dieser feingestimmten Gebilde schuf, betrachtete er sie einige Zeit als »Belanglosigkeiten«. Sein Streben ging vorerst andere Wege.
1845 erhielt Andersen (1805-1875) vom Leipziger Verleger Carl B. Lorck ein Angebot zur deutschen Ausgabe der bis dato entstandenen Schriften. Zusätzlich vereinbarte man eine Biographie, die der Autor entwerfen sollte. Sie erschien 1847 gemeinsam mit den ersten beiden Bänden der Gesammelten Werke – und entstand, Blatt für Blatt, auf einer Reise, die H. C. A. in weitem Bogen durch Europa unternahm. Gebannt folgt man ihm – Seite für Seite – auf seiner Lebensreise. Der Insel Verlag gab sie wieder heraus. Sie beginnt in der dänischen Stadt Odense.
Andersen fühlt sich in einem »poetischen Land« geboren, von Natur umgeben, die er mit »Gärten im großen Stil« vergleicht. In ein Elternhaus versetzt, in dem man mit Anstand der Armut zu begegnen sucht. Er sei »ein sonderbar träumerisches Kind (gewesen), welches oft mit fest geschlossenen Augen ging«, schreibt der Dichter. Weil er in eigenen Gefilden lebte, möchte man ergänzen, die sich vom Umfeld unterschieden.
Man wird hineingezogen in die bunte bildhafte Schilderung seiner Weltsicht. Miniaturen reihen sich aneinander; sie spiegeln Nöte und Höhenflüge wider, an denen es in Andersens Leben nicht mangelte. Wohl sagt er: »Mein Leben ist ein hübsches Märchen, so reich und glücklich.« Doch diese Äußerung erscheint eher wie ein Paravent, den des Dichters sensibles Wesen gegen die rauhen Winde des Alltags aufrichtete.
Tummelplatz früher Spiele wird das Puppentheater. Hans Christian A. beginnt, Stücke zu schreiben, setzt sie in Szene und übernimmt alle Rollen, denn seine Stimme hat guten Klang. Auf der Straße spotten die Kinder: »Da läuft der Komödienschreiber!« Als Vierzehnjähriger erklärt er der Mutter, Schauspieler und als solcher berühmt werden zu wollen. Den Ablauf habe er nachgelesen: »Man hat erst gewaltig viel Widerwärtiges durchzumachen, und dann wird man berühmt.« Kindliche Gedanken. Doch letztlich treffen sie für ihn zu. Mit zehn Talern und unbedarftem Gemüt verläßt er Odense.
»Montag Morgen den 5. September 1819, erblickte ich zum erstenmal von der Anhöhe bei Friedrichsberg Kopenhagen.« Die große Stadt und der »kleine Junge«. Unter größten Schwierigkeiten versucht er, sich den Wunschtraum zu erfüllen, der ihn beherrscht und besucht Gesangs-, Tanz- und Schauspielunterricht. Der Mangel an Bildung steht ihm im Weg. Am Königlichen Theater läßt man ihn wissen: »Gefühl haben Sie, aber Schauspieler müssen Sie nicht werden.«
Gönner vermitteln ihm freien Unterricht an »Lateinschulen«. Der dreiundzwanzigjährige Schüler Hans Christian Andersen besteht das Abitur. Während der »Lernzeit« verabsäumt er es nicht, dramatische Arbeiten zu verfertigen – und Gedichte zu schreiben. Als 1829 die erste Sammlung von ihnen erscheint, jubelt er: »Nun lag das Leben sonnenbestrahlt vor mir.« Im Überschwang des Erreichten gibt H. C. A. einer Neigung nach, die bisher schlummerte. Die Begegnung mit der Natur. Auf einer Reise nach Jütland und Fünen erlebt er die Landschaft mit allen Sinnen, entdeckt sie als große Anregerin und als Wohltäterin für die verwundbare Seele. Die Poesie blüht. »Gedichte schossen auf dem Papier hervor.« Der erste Reisebericht entsteht (Fußreise nach Amack), dem weitere folgen werden. Sie erhalten Zuspruch; allerdings überwiegend vom Ausland. Die Ignoranz gegenüber seinen schriftstellerischen Arbeiten in Dänemark und die schmähenden Angriffe stürzen ihn wiederholt in Selbstzweifel und depressive Zustände.
Einer Flucht gleicht die Deutschlandreise 1831 – und wird im Verlauf zu einer großen Bereicherung. Andersen schließt Bekanntschaft mit Ludwig Tieck und Adelbert von Chamisso. Letzterer stellt ihn den deutschen Lesern vor. Der Reisende skizziert seine Eindrücke umgehend: Schattenbilder von einer Reise in den Harz, die Sächsische Schweiz etc. etc. im Sommer 1831. Dieses lebendige, vielfarbige Buch legt man so schnell nicht aus der Hand.
Erneut nimmt der Dichter ein persönliches Bedürfnis an sich wahr: das Reisen. »Ich fühlte, … daß das Reiseleben die beste Schule für mich sein würde.« Er empfindet es als »erfrischendes Bad, von dem ich gleichsam jünger und kräftiger zurückkehre.« Die Statistik – überall am Werk – wies ihm neunundzwanzig Auslandsreisen nach. Die Beschreibungen derselben quellen über von der Flut des Erlebten. In Paris lernt er Heine und Victor Hugo kennen. Grillparzer besucht er in Wien, in München Schelling; in St. Goar Freiligrath. Berlin bringt ihm die Bekanntschaft mit Alexander von Humboldt und Bettina von Arnim. In Rom befreundet er sich mit dem Bildhauer Bertel Thorvaldsen. Romane fließen aus seiner Feder und verschaffen ihm internationalen Ruf. Andersens Theaterstücke werden aufgeführt. So hält er sich – und die anderen ihn – für einen Romanschreiber, dramatischen Dichter und Reiseschriftsteller.
Und wo bleiben die »Belanglosigkeiten«, die Märchen? Als die erste Ausgabe 1835 vorliegt, findet sie wenig Echo. Doch die Kritik greift danach und verfährt hart mit ihr: Wie könne Andersen nach dem Erfolg seines Romans (Der Improvisator) »gleich darauf mit so etwas Kindischem wie die Märchen kommen.« Man spricht ihm das Talent dafür ab. Seine Antwort: »… ich hielt also lieber damit inne, aber die Märchen drängten sich mir auf … ich folgte meinem Triebe, die meisten selbst zu erfinden«. Und dann sprudelt der Quell: Däumelinchen; Des Kaisers neue Kleider; Der standhafte Zinnsoldat; Der Tannenbaum; Die Schneekönigin … Zu guter Letzt weiß man nicht, ob die Beschreibung einer Mondnacht dem Reisebericht von Neapel oder einem seiner Märchen entstammt: »Herrliche Abende. Es war als ob der Himmel höher hinauf gehoben und die Sterne zurückgewichen wären … Im Norden streut der Mond Silber auf das Wasser, … die Fackeln der Fischerboote warfen ihren obeliskförmigen Schein über die Wasserfläche hin …«

Hans Christian Andersen: Märchen meines Lebens, Insel Verlag Frankfurt/Main und Leipzig, 236 Seiten, 9 Euro; Hans Christian Andersen: Schattenbilder von einer Reise in den Harz, die Sächsische Schweiz etc. im Sommer 1831, Insel Verlag Frankfurt/Main und Leipzig, 230 Seiten, 9 Euro