Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 14. März 2005, Heft 6

Die Weisheit der »Fremden«

von Wolfram Adolphi

Ohne Fremdsprachen werden sie nicht auskommen, die jüngeren Generationen, wenn sie sich künftig ein Bild machen wollen von der DDR. Denn in Englisch und Französisch ist nachzulesen, was auf Deutsch – jedenfalls gegenwärtig – kaum zu haben ist: der Blick von außen, der die vierzig Jahre Leben des zweiten deutschen Staates nicht in Vorurteile preßt, sondern ernstnimmt – und damit nicht nur Widersprüchlichkeit, Enge, Vielfalt und Buntheit sichtbar werden läßt, sondern auch fruchtbares Erbe für Künftiges.
Eines der Bücher, auf die sich diese These stützt, stammt von Peter C. Caldwell aus den USA und trägt den Titel Dictatorship, State Planning and Social Theory in the German Democratic Republic (Diktatur, staatliche Planung und Gesellschaftstheorie in der Deutschen Demokratischen Republik). Es ist dies eine höchsten Ansprüchen genügende wissenschaftliche Monographie, die weit über bisher Dargestelltes hinausgeht. Daß Ernst Bloch (1885-1977) eine herausgehobene Rolle spielt, kann nicht überraschend. Caldwell aber betrachtet Blochs Wirken in der DDR im Zusammenhang mit dem weiterer Wissenschaftler – und zwar solcher, die trotz erlittener Lehr- und Publikationsverbote, Amtsenthebungen und anderer Demütigungen in der DDR blieben –, und es gelingt ihm damit ein erhellender Einblick in die Tiefe der inneren Widersprüche des Realsozialismus und in die Komplexität des Ringens marxistischer Wissenschaftler um deren Namhaftmachung und Lösung. So stehen neben Ernst Bloch die Ökonomen Fritz Behrens (1909-1980) und Gunther Kohlmey (1913-1999), der Rechtsphilosoph Hermann Klenner (geb. 1926) und der Philosoph Georg Klaus (1912-1974). Auf dem Klappentext ist Jeffrey Kopstein von der kanadischen University of Toronto mit der Ansicht zitiert, daß Caldwell »die Entwicklung ostdeutschen Denkens in den breiteren Zusammenhang des modernen europäischen und amerikanischen Denkens stellt« und so »der Debatte über den Kommunismus eine neue und interessante Richtung« gibt. Wo unternimmt man solches an deutschen Universitäten?
Im zweiten hier gemeinten Buch gibt der (Ost)Berliner Literaturwissenschaftler Frank Hörnigk einen Hinweis darauf, warum diese Frage so schwer zu beantworten ist. »Nie« habe er – er spricht da vom Anfang der achtziger Jahre – »auch nur im entferntesten« einen seiner »›Landsleute‹ aus dem Westen so solidarisch, engagiert und mit gleichzeitig so viel Respekt vor den Erfahrungen und Leistungen anderer getroffen« wie – ja: wie die französischen Kolleginnen und Kollegen von der Université Paris 8 Vincennes Saint-Denis, mit denen er und etliche andere Wissenschaftler und Studenten der Humboldt-Universität zu Berlin durch einen 1982 geschlossenen Vertrag über Zusammenarbeit verbunden waren.
Dem Hauptakteur beim Zustandekommen und der Verwirklichung dieses Vertrages, dem Germanisten und langjährigen Vizepräsidenten der Université Paris 8, Jean Mortier, haben Mitarbeiter und Freunde einen Sammelband mit zum Teil französisch, zum Teil deutsch verfaßten Texten gewidmet, der in Paris unter dem Titel Résistances – mouvements sociaux – alternatives utopiques (Widerstände – soziale Bewegungen – utopische Alternativen) erschienen ist. In 28 Beiträgen geht es um neuere und neueste deutsche und französische Geschichte, um Gesellschaftsbetrachtung, um Literatur und um Erinnerungen an die Zusammenarbeit, die in der DDR begann und noch immer fortbesteht.
Ich will hier vor allem jene Texte hervorheben, die Auskunft über die Gründlichkeit der Forschungen der französischen Wissenschaftler zur DDR geben. Da befaßt sich die Pariser Germanistin Hélène Roussel (in deutscher Sprache – alle im folgenden genannten Aufsätze dann in französischer) unter der Überschrift Schwierigkeiten beim Schreiben für den Frieden mit »drei vergessenen Kurzgeschichten von Anna Seghers«, die von der Dichterin selbst unter dem Titel Die Kinder des Zweiten Weltkrieges zusammengefaßt worden waren: Die Puppe, Kindergarten und Schulaufsatz. Roussels Kollegin von der Université Paris 12, Françoise Barthélemy-Toraille, untersucht Franz Fühmanns unvollendet gebliebenen Roman Im Berg, den sie als »Testament der Hoffnungslosigkeit« beschreibt. Jacques Poumet, Germanist aus Lyon, diskutiert den Roman Anschlag von Gert Neumann; Jean-Claude François, Germanist aus Nantes, das Werk des Dramatikers Georg Seidel.
Und um das Nach-Wende-Deutschland geht es. Die Zeitschriftenredakteurin Nicole Bary stellt die Frage, ob man am Beginn des 21. Jahrhunderts eine Wende in der deutschen Literatur ausmachen könne, und sieht in Generation Golf von Florian Illies und den »als eine Art Kontrapunkt dazu« entstandenen Zonenkindern von Jana Hensel Zeichen dafür, wie die »Zerbrechlichkeit des Erlebens und die Unbeständigkeit der Erinnerung« Einzug in diese Literatur halten. Und der Pariser Germanist Michel Celse setzt sich kritisch mit den seinerzeit heftig diskutierten Romanen der Gabriele Mendling alias Luise Endlich NeuLand und OstWind auseinander, in denen es um die Erfahrungen einer aus dem Westen an die Oder gekommenen Familie geht. Luise Endlich, mutmaßt Celse, sei sich wohl »der Arroganz ihrer Verhaltens- und Schreibweise überhaupt nicht bewußt« gewesen, aus »Mangel an Reflexion über geschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge« habe sie »Fakten einer fremden Welt lediglich anekdotisch registriert« und »durch eine tendenziöse Wortwahl abwertend geschildert«. Die Bücher dokumentierten eindringlich, »wie unüberbrückbar die Kluft zwischen den beiden deutschen Teilgesellschaften« noch immer sei.
Eine Darstellung des Fonds R.D.A. an der Bibliothek der Université Paris 8 – mithin des mit Hilfe der Humboldt-Universität aufgebauten umfangreichsten Bibliotheksbestandes zu Politik, Kultur und Geschichte der DDR und der neuen Bundesländer in Frankreich – und eine Bibliographie der Arbeiten von Jean Mortier zu Deutschland und der DDR runden den informativen und anregenden Band auf sinnvolle Weise ab.
Die Caldwell-Monographie und dieser französisch-deutsche Sammelband: Sie lassen ahnen, daß man im Betrachten des »Eigenen« auf die Weisheit der »Fremden« nicht verzichten darf.

Peter C. Caldwell: Dictatorship, State Planning, and Social Theory in the German Democratic Republic, Cambridge University Press, 220 pp., 67,50 Euro; Résistances – mouvements sociaux – alternatives utopiques. Hommage à Jean Mortier, sous la direction de Hélène Roussel, Sylvie Le Grand, Monique Da Silva. Université Paris 8 Vincennes Saint-Denis, Travaux et Documents 23-2004, 382 pp., 15 Euro.