Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 28. Februar 2005, Heft 5

Die Ukraine und Europa

von M. R. Richter, Kiew

Viktor Juschtschenko hat die Präsidentschaftswahlen nicht zuletzt durch das Versprechen gewonnen, die Ukraine baldigst in die Europäische Union hineinzuführen. An diesem Ziel, der Ankunft im Gelobten Land EU, werde die Ukrainer sowohl ihn als auch seine Gefolgsleute bei den kommenden Wahlen messen. Juschtschenko weiß dies. Darum galt sein Besuch gleich nach dem Höflichkeitstrip nach Moskau dem Europaparlament und der Europäischen Kommission. Letzteres Ziel erreichte er nicht, Wetterbedingungen erlaubten keine Landung in Brüssel – sicherlich nur ein Zufall, vielleicht aber auch ein Menetekel.
Was erwartet der Ukrainer von Europa, von einem Anschluß an die EU? Ist es nur der irrationale Drang des »Go West«, welcher seit Jahrtausenden die Menschheit bewegt?
Selbstverständlich ist zuerst einmal der aus den Medien vertraute (west-)europäische Lebensstandard das Ziel der Begierde. Dazu gesellt sich die Hoffnung auf Rechtsstaatlichkeit, auf ein funktionierendes Justizsystem, auf Ordnung ganz generell. Wen wundert es, daß dabei die Anspruchshaltung weit ausgeprägter ist als die Bereitschaft, sich selbst diesen Anforderungen zu stellen. Was würde die Ukraine in die Europäische Union einbringen? Zuerst einmal eine riesige Fläche (603700 Quadratkilometer – im Vergleich: Deutschland: 357000 Quadratkilometer) und viele Millionen Arbeitskräfte. Von den 48,4 Millionen ukrainischen Staatsbürgern (Deutschland: 82,6 Millionen Einwohner) arbeiten bereits heute etwa fünf Millionen im westeuropäischen Ausland – zumeist im Servicebereich aller Coleur, viele als Illegale, rechtlos ihren »Arbeitgebern« ausgeliefert.
Zum zweiten verfügt die Ukraine trotz unterentwickelter allgemeiner Arbeitsproduktivität (jährliches Bruttosozialprodukt: 970 US-Dollar pro Einwohner, zum Vergleich – Deutschland: 25250 US-Dollar pro Einwohner – alle Zahlenangaben nach offiziellen Statistiken der Weltbank) über eine starke metallurgische Industrie und einen gut entwickelten Schwermaschinenbau, die Basis des leistungsfähigen, in gemeinsame russisch-ukrainische Strukturen integrierten militärisch-industriellen Komplexes. Zu seinen Produkten zählen ballistische Raketen, Flugzeuge, Panzer, aber auch Kraftwerksausrüstungen, Rohrleitungen, Investitionsgüter der Erdölindustrie und Kraftfahrzeuge. Relativ gut ausgebaut ist ebenso die Nahrungsmittelindustrie, währen die Landwirtschaft sich noch nicht wieder von der Zerschlagung der sowjetischen Wirtschaftsstrukturen erholt hat und den Qualitätsansprüchen der EU in keiner Weise gewachsen ist. Die Textilindustrie übernimmt heute große Aufträge insbesondere polnischer Unternehmen als Billiglohndienstleister. Als Wirtschaftshemmnis stellt sich mehr und mehr trotz niedriger Tarife der Energiesektor heraus, der in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten kaum Modernisierungen oder auch nur Generalreparaturen erfahren hat, sondern auf Verschleiß betrieben wurde.
Was von all diesem dem Konkurrenzdruck innerhalb der EU gewachsen wäre, kann man sich an allen fünf Fingern abzählen: der Billiglohnsektor in der Leicht- und Nahrungsmittelindustrie, Teile der metallurgischen Industrie, Land und Boden sowie billige Arbeitskräfte. Höchstes Interesse hätte demgegenüber die westeuropäische Wirtschaft am Modernisierungsbedarf der gesamten ukrainischen Wirtschaft. Doch all das erfordert Subventionen in kaum erahnbaren Größenordnungen. Diese Subventionen sind die Triebfeder aller ukrainischen Bemühungen in Richtung EU!
Was würde demgegenüber der ukrainische Anschluß für die EU bedeuten? An diesem Punkt liegt ein kaum überschaubares Interessengemenge vor. Stärkstes Engagement in dieser Richtung zeigen zwei Staaten: Polen und bedeutsamerweise die USA. Was Polen bewegt, ist relativ klar zu erkennen: Eine Osterweiterung der EU mit Einschluß der Ukraine würde für Polen Märkte eröffnen, die von den westlichen Konkurrenten noch nicht erschlossen sind. Warschau würde außerdem von der europäischen Peripherie ins Zentrum rücken, die politische und wirtschaftliche Bedeutung Polens wäre wesentlich gestärkt; quasi würde das alte Großpolen wiedererstehen. Polen würde zu einer europäischen Großmacht aufsteigen, zumindest aber für Frankreich und Deutschland zu einem ernsthaften Konkurrenten werden.
Genau hier liegt das Interesse der USA: Der Anschluß der Ukraine an die EU würde sowohl die französischen als auch deutschen politischen und wirtschaftlichen Konkurrenten erheblich schwächen und sie außerdem zwischen London und Warschau in die Zange nehmen. Kein Wunder, daß sich die noch immer von den alten europäischen Großmächten beherrschte Europäische Kommission in Brüssel gegenüber den Kiewer Wünschen (noch) sehr reserviert verhält und auf Zeit spielt, zumal die Ukraine nie zum zentral- und westeuropäischen Wirtschaftsraum oder Kulturkreis zählte.
Ein weiterer bedeutender Interessent an der Eingliederung der Ukraine in europäische Strukturen soll nicht unerwähnt bleiben: die NATO. Allerdings spielt für sie die Formalmitgliedschaft der Ukraine in der EU nicht die wesentliche Rolle – Hauptsache, die Ukraine ordnet sich der NATO unter. Daraus ergeben sich zwei Vorteile: Die mit der NATO liierte Ukraine müßte ihre Streitkräfte auf NATO-Standard umrüsten, und der NATO würde sich eine Rollbahn nördlich des Schwarzen Meeres bis zum Kaukasus eröffnen, um einerseits den Zangengriff nach Mittelost zu schließen, andererseits den russischen Bären an der Fußsohle zu kitzeln.
Daß Moskau bei einer Annäherung der Ukraine an die Europäische Union der eigentliche große Verlierer ist, braucht nicht hervorgehoben werden. Der Kreml beobachtet all dies mit Argusaugen – und wird sich keine Gelegenheit zu Störversuchen entgehen lassen.
Summa summarum: Für die neue ukrainische Führung ist die Annäherung an die EU eine Frage des Überlebens, für Polen mit Washington im Hintergrund ist sie wünschenswert, für die übrige EU kaum aktuell und außerdem viel zu teuer und für Rußland ein Grund zu vehementen Widerstand.