Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 14. Februar 2005, Heft 4

Deutscher Winter

von Erhard Crome

Es ist Winter, aber nicht so recht kalt. Im Kino ist gerade Charly Chaplin im Original. Der große Diktator wird neu aufgeführt. Der Film ist neu geschnitten, rekonstruiert. Er hat weniger Zuschauer als Der Untergang. Aber man versteht das Ganze hier besser. Die Stimme Chaplins ist großartig. Die Doppelrolle, einerseits als jüdischer Friseur, andererseits als der Diktator, ist grandios ausgefüllt. Die heute können meist nicht mal die eine Rolle, für die sie auf dem Programm stehen. Der konnte selbst in einem Film zwei.
Dann überlagern sich bei mir die Bilder. Gerade kommt das Monatsprogramm des Berliner Ensembles. Vorangekündigt wird die Uraufführung von Elfriede Jelinek: Wolken. Heim. Und dann nach Hause. Peymann hat Regie. Er brauchte nicht den Nobelpreis, um Jelinek aufzuführen. Das hatte er schon früher gemacht, wie auch Schleef. Jetzt also Jelinek bei Peymann: Der Deutschen gedenken die Deutschen gewöhnlich zuletzt, entweder aus Bescheidenheit, oder weil man das Beste für das Ende aufspart.
Ist das jetzt das Ende? Hartz IV, oder können wir noch besser? Auf dem Treffen (im Januar) zur Vorbereitung des ersten Sozialforums in Deutschland, das im Juli stattfinden soll, wurde plötzlich geschrien. Die bisherigen Protagonisten des Forums hätten das falsche Programm und das falsche Konzept. Die sächsische Stimme mit dem Leipziger Tonfall klang wie jene, die 1989 die DDR wegschrien, und dann »Helmut, Helmut« riefen. Jetzt drohen sie mit ihrer Armut und der allgemeinen Enttäuschung. Die PDS sei auch schuld. Woran eigentlich? Die Trachtenpärchen-Flaschen, die Glatzen ohne Köpfe, die Streichhölzer, die Nägel mit Köpfen, alle alle, die uns glauben machen, weil sie selber es nicht glauben, sie tanzen am Strom, und immer wenn wer tanzt, tanzen andre sofort mit, heißt es bei Jelinek. Ich denke, die Deutschen schunkeln lieber, als daß sie tanzen. Der sächsische Schreihals war ein Geschickter von der MLPD, um zu provozieren, sagte nach der lauten Debatte einer. Nein, geschickt war der nicht. Er hat es nicht geschafft, das Sozialforum in Deutschland zu verunmöglichen.
Los, jetzt der neue Sport; Wir schlagen einander alle möglichst schnell blutig, damit wenigstens irgendeine Änderung von uns vorgenommen werden kann. So heißt es weiter bei Jelinek. Nein, dieses Spiel macht das Sozialforum in Deutschland nicht mit. Die Änderung wird nicht darin bestehen, daß wir uns gegenseitig blutig schlagen. Deutschland! Jetzt machen wirs in Heimarbeit, zuhaus, wo wir jeden Tag als Jäger zusammengetreten sind. Ja, wir haben jeden Tag Vereinssitzung, Sie haben recht gehört.
Ach, Deutschland, Du trübe Tasse. Der junge Mann hatte auch im Raume eine Mütze auf. Es war nicht kalt. Aber Mütze muß sein. Eine in der Art, von der vor fast fünfzig Jahren mein Vater gesagt hatte: »Der hat ‘ne Schläjerfanne uff’m Kopp!« Das also der junge Mann aus – War es Gießen? – jetzt. Wieder die Überlagerung der Bilder. Hatte der »Große Diktator« auch im Saale die Mütze auf, oder nur draußen? Ist das Mützenlaufen im Raume nun die Tradition des »Führers«, oder eine alternative? »Ich find’ es Scheiße, wenn Promis auf dem Sozialforum reden«, sagte der junge Mann mit der Schläjerfanne. Die Diskussion geht darum, ob auf der Eröffnungsveranstaltung des Sozialforums in Deutschland ein Aktivist aus Brasilien reden soll.
Der »Promi«, um den es ging, hatte als einziges Kriterium, daß er aus Brasilien kommt, einer wie wir, ein Freizeit-Aktivist der sozialen Bewegung. Das ist ein Promi? Der Satz klang wie: »Ich find‚ es Scheiße, wenn Ausländer auf dem Sozialforum reden.« Bei Jelinek klingt das so: Deutschland marschiert, damit es sich nicht zu Hause antrifft, wenn es ihm endlich kommt. Danach sagte ein älterer Herr, der seine Finger mit lauter Blechringen geschmückt trug: »Am besten ist, wenn keine Reden gehalten werden, sondern nur Kultur gemacht wird.« Dann bleibt nur noch der deutsche Volkstanz. Mit Mütze des Großen Diktators oder ohne? Trüb ist es heut, es schlummern die Gäng und Gassen, und fast will mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.
Es wird ein Sozialforum geben in Deutschland. Damit sind wir Teil der weltweiten Bewegung, trotz des deutschen Wesens. Entsetzlich. Wir sind wir. Dabei sind doch wir nicht einmal ich. So Jelinek. Es wird weitere Bemühungen und es wird weitere Provokateure, nicht nur von der MLPD, geben.
Die eine Vergangenheit befindet sich angeblich im Osten, die andre soll sich irgendwo im Westen aufhalten. In der Rubrik ist für beide eingetragen: derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt. Es wird ein Ereignis sein, Jelinek auf der Bühne zu erleben. Trifft mich die Verkrampfung des deutschen Wesens, mit der Mütze, den Blechringen und den Bedenkenträgereien zu Rednern aus der Fremde? »Ich weiß doch gar nicht, wer da kommt«, sagte eine alte Frau.
Der deutsche Mensch will nur sich selbst erleben. Mein Name kommt aus England. Meine Familiengeschichte hat ihre wichtigsten Wurzeln in Holland. Ich bin hier, weil ich hier sein will – solange ich will. Die Vergangenheit aus dem Osten ist noch nicht erledigt.
Die Premiere von Jelinek ist am 2. März. Das Sozialforum in Deutschland findet vom 21. bis 24. Juli 2005 in Erfurt statt. Chaplin ist eben jetzt im Kino. Selber denken kann man jeden Tag. Es ist zuwenig im Warenkorb, meint Jelinek. Warum gibt man uns den Warenkorb, wenn doch immer zuwenig drinnen ist? Bis Mittwoch kommen wir aus, länger kommen wir nicht miteinander aus. Das Sozialforum beginnt Donnerstag.