Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 3. Januar 2005, Heft 1

Schultyrann, Anarchist, Clown

von Klaus Hammer

Vor einhundert Jahren erschien Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Weltberühmt wurde der Verfasser dieses Romans, Heinrich Mann, allerdings erst 26 Jahre später: durch den Film Der Blaue Engel. Im Januar 1933 fand sich auf dem Titelblatt einer Nazi-Illustrierten die Montage eines Hampelmanns mit dem Kopf von Heinrich Mann und den Beinen der Marlene Dietrich. Die bekannte Liedzeile Friedrich Hollaenders »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt« war gegen »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Juda eingestellt« ausgetauscht worden. Heinrich Mann erinnert sich in seiner Autobiographie Ein Zeitalter wird besichtigt an diese Karikatur: »Kein Zweifel, ich war verhaßt, populär machte mich gerade der Haß. Viel Nachfrage machte ein Hampelmann: mein Kopf und die Beine einer Schauspielerin. Ein Filmstoff von mir hatte alle drei, das Talent der Frau und ihre zwei reizenden Gliedmaßen, berühmt gemacht.«
1904, schrieb Heinrich Mann später, habe er in einem Florentiner Schauspielhaus Goldonis Komödie Das Kaffeehaus erlebt und in der Pause eine Berliner Zeitungsmeldung gelesen »von einem Professor, den seine Beziehung zu einer Dame vom Kabarett auf strafbare Abwege gebracht« hatte. Beides, das Intriganten- und Betrugsmotiv des Stückes und der Stoff der Zeitungsgeschichte, wandelten sich zum Fall des Gymnasialprofessors Raat, der in Liebe zur Tingel-Tangel-Dame Fröhlich verfällt und zum Hochstapler wird.
Seine Heimatstadt Lübeck und eigene Lübecker Schulerlebnisse dienten Heinrich Mann als Schauplatz für seine Geschichte von dem Kleinstadttyrannen. Auch die Hafenkneipe Blauer Engel, in dem die Schüler »Nebendinge« treiben, existierte in Lübeck wirklich. Die Kritik an der Institution Schule und der Lebensweise des wilhelminischen Bürgertums avancierte in der Gestalt des Professors Unrat zur Epochenkritik schlechthin. Die Schule, ganz auf Autorität, Disziplin, Gehorsam und Unterwerfung ausgerichtet, ist ein »Staat im Staat«. Die Machthaber im Kleinen, in der Schule, verkörpern das wilhelminische Machtsystem. Doch Unrat, so nennen ihn die Schüler, der ins »Kabuff« steckt, was widersetzlich ist, wird vom menschenfeindlichen, autoritären Repräsentanten zum Vernichter dieser bürgerlichen Gesellschaft. In den letzten Kapiteln nimmt der Autor den Untergang dieser Gesellschaft in die Anarchie vorweg: »Aus dem Tyrannen war endgültig der Anarchist herausgebrochen.«
Nach seiner Entlassung aus dem Schuldienst führt Raat ein berüchtigtes Etablissement, wo sich die halbe Stadt versammelt, um in Gesellschaft »zweifelhafter Damen« Glücksspielen und Trinkgelagen zu frönen. Die Fröhlich betrügt Raat zwar ständig, aber sie ist zugleich Vollstreckerin des Fanatikers Raat, der seine Schüler zu »vernichten« und ihnen ihre Zukunftschancen zu vermasseln sucht. In einem »Komödienschluß« wird er nicht als teuflischer Anarchist, sondern als wahnsinniges Monstrum, als Verbrecher in seinem Haus dingfest gemacht.
Der Darstellung der Schule in Professor Unrat liegt als Vorbild Die Buddenbrooks des jüngeren Bruders Thomas Mann zugrunde. In der Figur des Schülers Lohmann vereinigen sich Eigenschaften von Hanno Buddenbrook und seines Freundes Kai. Deren »spöttische Distanz und Fremdheit« wiederholt sich in der von »matter Geringschätzung« geprägten Haltung Lohmanns. Hanno und Kai sehen im »Lehrkörper« »eine Art Ungeheuer von widerlicher und phantastischer Gestaltung«, der das Scheusal Unrat vorwegnimmt.
Als die Ufa 1930 den Film Der blaue Engel produzierte, war Marlene Dietrich im Unterschied zum weltbekannten Emil Jannings, der den Professor Unrat spielte, nur wenigen ein Begriff. »Sie hat einen schönen Popo, aber brauchen wir nicht auch ein Gesicht?«, soll einer der Assistenten den Regisseur Josef von Sternberg gefragt haben. Der Film, einer der größten Publikumserfolge des deutschen Films überhaupt, folgt nicht den Intentionen des Romans, sondern geht dramaturgisch eigene Wege. An die Stelle der Schule, die das System der übergeordneten staatlichen Macht widerspiegelt, tritt der Machtkampf zwischen Sexualität und Moral. Lolas Vitalität und unverblümte Direktheit bringen die falsche Welt des Immanuel Rath, seine im Grunde morsche Moral zum Einsturz. In sentimental verbrämter Tragik endet im Film sein Leben: Der zum dummen August entmenschte Alte hat sein entsetzliches »Kikeriki« gekräht. Er irrt durch die Nacht und stirbt an seiner einstigen Wirkungsstätte, auf dem Katheter seines Klassenzimmers.
Heinrich Mann hat sich wohl den Zwängen des ehrgeizigen Ufa-Projektes gebeugt und den wesentlichen Abweichungen des Drehbuches von seinem Roman zugestimmt. Später kritisierte er die Umwandlung seines Protagonisten: »Ich schrieb eine Fanfare gegen die Obrigkeit! Professor Unrat war die gestürzte Autorität. Jetzt ist er das bedauernswerte Opfer des Vamps!«
Drei Wochen nach Hitlers Machtantritt floh Heinrich Mann aus Deutschland, sein Professor Unrat kam auf die Liste der zu verbrennenden Bücher. Auch der Film wurde bald darauf verboten.

Zum hundertjährigen Jubiläum hat der S. Fischer Verlag den Roman »Professor Unrat« im Umschlag seiner Erstausgabe mit einem Nachwort von Gregor Hens herausgebracht, Preis 14 Euro