Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 3. Januar 2005, Heft 1

Reisen im Orient

von Reinhard Stöckel

Im Herbst 1898 reiste Wilhelm II. in den Orient. Die Morgenlandfahrt des deutschen Kaisers diente seinem Seelenheil und – natürlich – politischen Zwecken. Nach Gesprächen im Sultanspalast von Konstantinopel fuhr die Reisegesellschaft mit der Yacht Hohenzollern nach Haifa, von wo aus sich ein Troß von 1300 Pferden und Mulis, hundert Kutschen, sechzig Dienern und zwölf Köchen in Bewegung setzte. In Jerusalem weihte der fromme Pilger die neuerbaute Erlöserkirche und verkündete: »Wie vor zwei Jahrtausenden soll auch heute von hier der Ruf in alle Welt erschallen, der unser sehnsuchtsvolles Hoffen in sich birgt: Friede auf Erden!« Wenige Tage später in Damaskus erklärte sich der Monarch zum Freund »der 300 Millionen Muhammedaner, die, auf der Erde zerstreut lebend, in … (dem türkischen Sultan) ihren Kalifen verehren«.
Das Abendland von Paris bis Moskau war empört und sprach von der »Preisgabe einer gesamtchristlichen Idee«. Solcherart Fundamentalismus mischte sich mit handfesten politischen Sorgen. Schien dem kaiserlichen Pilger doch zu gelingen, was die anderen Großmächte fürchteten: das zwar angeschlagene, doch noch immer mächtige osmanische Reich zum Verbündeten Deutschlands zu machen.
Neben der militärischen Kooperation, die durch den Kaiserbesuch neuen Auftrieb erhielt, war es vor allem der Bau und Betrieb von Eisenbahnlinien, um die vor allem englisches und französisches Kapital mit deutschen Unternehmen konkurrierte. Das Geschäft war lukrativ, verpfändetete doch die Hohe Pforte Staatsgelder für eine Einnahmegarantie pro Streckenkilometer. Für die Regierung des Sultans, Abdul Hamid II., hatte der Eisenbahnbau nicht zuletzt strategische Bedeutung, versprach er doch eine schnellere Verlegung von Truppen in die südlichen Landesteile, wo rebellische Araber die Stabilität des riesigen Reiches bedrohten.
Seit der Orientexpreß 1889 erstmals im Bahnhof Sirkedji am Westufer des Bosporus einfuhr, träumten Politiker, Unternehmer, Ingenieure und ungezählte Stammtischstrategen von einer Fortführung der Strecke von Konstantinopel über das anatolische Hochland und Mesopotamien bis zum persischen Golf. Die Gespräche des Kaisers mit dem Sultan verwandelte die Idee in erste Konzessionen.
Schon jubelten die Alldeutschen Blätter: »Also Volldampf nach dem Euphrat und Tigris und nach dem Persischen Meere und damit der Landweg nach Indien, wieder in die Hände, in die er allein gehört, in die kampf- und arbeitsfreudigen deutschen Hände!«
Die Deutsche Bank, Hauptinvestor des Bahnprojekts, hielt weniger von Kolonisierungsplänen und mehr von der Erschließung neuer Märkte mittels einer »friedlichen Durchdringung«. Bewässerungsprojekte in der Ebene von Konya, die Baumwollproduktion in Adana und nicht zuletzt eine Konzession auf die mesopotamischen Ölfelder, das waren die vielversprechenden »Nebenstrecken« der Anatolischen Eisenbahngesellschaft. Die inzwischen allgemein als Bagdadbahn bekannte Bahnlinie wurde während des Ersten Weltkrieges jedoch zu einer verlorenen Hoffnung. Die Briten standen auf dem Sinai, in der arabischen Wüste machten die Beduinenstämme mobil. Die deutschen und türkischen Militärs drängten, die Bauarbeiten zu forcieren. Doch schwierige Bauabschnitte wie Viadukte und Tunnel im Taurusgebirge waren zu überwinden.
Zusätzlich Probleme bereitete der Verlust armenischer Arbeiter. Innenminister Talaat Pascha hatte im Frühjahr 1915 angeordnet, »in der Türkei lebenden Armenier restlos auszurotten«. Die potentiellen Kollaborateure wurden zu Fuß und per Bahn auf Reisen geschickt, offiziell ins Zweistromland, faktisch in den Tod.
Die Ambivalenz des Bagdadbahnprojekts zwischen Kulturleistung und Machtpolitik schlug um ins Verbrecherische. Und auch die deutsch-türkische Partnerschaft wurde zur mörderischen Kumpanei.
Wenn es auch zögerliche bis energische Proteste deutscher Stellen in der Türkei gegen Deportationen und Massenmorde gab, letztlich entschied sich »Berlin« aus Gründen der militärstrategischen Räson, seinen Bündnispartner nicht zu düpieren. Als Zensurvorschrift für die Presseerklärungen der deutschen Regierung wurde im Dezember 1915 ausgegeben: »Über die armenische Frage wird am besten geschwiegen.«
Der Schriftsteller Armin T. Wegner, im Weltkrieg Sanitätsoffizier, machte heimlich Fotoaufnahmen von den Vertreibungen; er äußerte später über seine Offizierskameraden: »Sie wollten nichts sehen und nichts hören.« Ein bezeichnendes Licht auf die Geisteshaltung deutscher Militärs jenseits von Zensur- und Dienstvorschriften wirft eine Rechtfertigung des Generals von Schellendorf, während des Krieges Chef des osmanischen Feldheeres, die er nach dem Krieg zu veröffentlichen sich genötigt sah. »Der Armenier ist wie der Jude außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Haß, der sich in mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu ihrer Ermordung führte.«
Die Verstrickung der Eisenbahn in den Völkermord reicht von der alltäglichen Herzlosigkeit über den Transport der Verbannten bis zur Schreibtischtäterschaft. Im August 1915 berichtete ein Augenzeuge von der Bahnstation Eskishehier, in deren unmittelbarer Nähe deportierte Armenier kampierten, daß er nach einer Gewitternacht Hunderte von Leichen auf dem Feld liegen sah, weil die christlichen (!) Eisenbahnbeamten den Vertriebenen nicht gestattet hatten, unterm Dach des Bahnhofs Schutz zu suchen.
Der Vizepräsident der Anatolischen Eisenbahngesellschaft, Franz Günther, schrieb im Oktober 1915 aus Konstantinopel voller Sarkasmus: »Einliegend sende ich ihnen ein Bildchen, die Anatolische Eisenbahn als Kulturträgerin in der Türkei darstellend. Es sind unsere sogenannten Hammelwagen, in denen beispielsweise 880 Menschen in zehn Wagen befördert werden.«
Ebenfalls im Oktober befahl Oberstleutnant Boettrich, Chef der deutschen Eisenbahnlogistik, alle armenischen Bahnangestellten aus dem Dienst zu entfernen und damit der Willkür der osmanischen Behörden zu überlassen. Mit dem Kriegsende waren die deutschen Träume vom Orient ausgeträumt. Das letzte Teilstück der Bagdadbahn, inzwischen zur irakischen Staatsbahn gehörend, wurde im Juli 1940 fertiggestellt. Heute sind es vor allem türkische Bauern und deutsche Eisenbahnromantiker, die sich in spartanischen Waggons von einer hundertjährigen Borsig-Lokomotive mit gemächlichen sechzig Stundenkilometern durch Anatolien und das Taurusgebirge ziehen lassen.
Eine sehenswerte Ausstellung im Berliner Pergamonmuseum zeichnet die Geschichte der Bagdadbahn nach, ergänzt mit schönen Fotografien einer Reise auf den alten Strecken im Jahr 2000. Man findet eine Dienstanweisung ausgestellt, welche die Ingenieure verpflichtet, botanische und archäologische Beobachtungen nach Deutschland zu melden. Berichte über derlei Beobachtungen auf und an den Strecken, welche im Jahr 1915 die Akten der Eisenbahngesellschaft füllten, finden in der gesamten Ausstellung jedoch keine, im Katalog werden sie in einem Halbsatz erwähnt.
Die offizielle Türkei hat sich bis heute nicht der »armenischen Frage« gestellt – doch sollte (um »des lieben Friedens Willen«) besser darüber geschwiegen« werden? Dann bekäme Hitler noch auf eine fatale Weise recht, der 1939 seinem Befehl zur Ermordung der polnischen Intelligenz angefügt hatte: »Wer redet heute noch von den Armeniern?«

Jürgen Franzke: Bagdad- und Hedjazbahn. Deutsche Eisenbahngeschichte im Vorderen Orient, Katalog zur Ausstellung, Pergamonmuseum, Berlin, noch bis 9. Januar 2005; ergänzend: www.armenocide.de