Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Dezember 2004, Heft 25

Tell – allerorten

von Renate Hoffmann

Rund um das Rütli, respektive den blaugrünen See, lagert die Tellslegende. Im 15. Jahrhundert wird sie erstmals vom »Hörensagen« in schriftliche Form übertragen. Das Weiße Buch von Sarnen (datiert zwischen 1470 und 1474) erzählt die Geschichte mit allen ihren erregenden Einzelheiten. Mit Apfelschuß und Tyrannenmord und dem schlimmen Treiben fremder Vögte: »… und was das ein Gesler, der ward vogt zu Ure (Uri – d. A.) und ze Switz (Schwyz – d. A.) …« und brachte »vil leide« über die Menschen.
Die Geschehnisse avancieren im Zeitenlauf zum Urknall der Eidgenossenschaft. Nichts davon ist historisch bewiesen. Keimzelle bleibt vermutlich der Landfriedensbund, den die drei am See gelegenen späteren Kantone (Uri, Schwyz, Unterwalden) 1291 schlossen. Das geschah zu Brunnen (welcher Ort immerhin in Sichtweite des Rütli liegt). Wahrscheinlich rankt sich die Erzählung vom Meisterschützen Wilhelm und den beherzten Eidgenossen um dieses Ereignis. Die Historiker nennen es eine Gründungssage. Goethe greift sie auf, und reicht sie Schiller, dem besseren Dramatiker, weiter. Friedrich formt daraus den schweizerischen Nationalhymnus schlechthin.
Auf der Fahrt von Brunnen zum Rütli passiert der Raddampfer Schiller den Schillerstein. Ein natürliches Felsenriff, das schon im Weißen Buch Erwähnung findet. Dort allerdings Mythenstein genannt (da Schillers irdische Ankunft noch nicht abzusehen war). 1859 faßten die Schwyzer Eidgenossen den Entschluß, Tells Dichter gebührend zu ehren. In der Morgensonne, die über den felsgewaltigen Fronalpstock einfällt, glänzt nun am Stein gülden die Würdigung: Dem/Saenger Tells/F. Schiller/Die/Urkantone/ 1859.
Altdorf – wo der Weg zum Gotthard beginnt. Städtchen mit südländischem Hauch. In den lichtdurchfluteten Straßen und Gassen verfällt man dem Schlenderschritt. Korrigiert ihn jedoch auf dem Rathausplatz, weil es einem plötzlich hehr zumute wird. Hier nämlich ist (soll sein) der Ort, an dem Gesslers Hut aufgerichtet war, dem Wilhelm seinen devoten Gruß versagte. Aus Unachtsamkeit, nicht aus Trotz! Und an dem sich Walterli, ohne zu wackeln, den Apfel vom Blondschopf schießen ließ. »… Tall nam ein pfyl und stagt inn in sin göller, den andern pfyl nam er in ein hand und spien sin armbrest … und schoss dem kind den öpfel ab dem houpt.«
Urschweizerisch und uralt, das gilt für Bürglen, dem »Tellendorf« im Schächental. Breitgelagerte Häuser staffeln sich den Hang hinauf. Wo immer man steht, Berge, im Licht des Tages die Farben wechselnd, schauen über die Dächer. Neben der Pfarrkirche behauptet eine bescheidende Kapelle ihren Rang. Sie ist bedeutender als jene. Denn als man sie 1582 errichtete, geschah dies »zu einer gedächtnuss des frommen landtmanns willhälm Dällen, … der uf disem Platz … sein hus und heim hat ghan.« Die älteste der drei ältesten schweizerischen Tellskapellen soll sie sein. Ihr Innenraum trägt eine Wandbilder-Lebensgeschichte des berühmten »ersten Eydtgenossen«. Eine der elf Szenen zeigt Tells Tod. Aufsehenerregend – wie sein Leben. Er springt in den Schächenbach, um ein Kind zu retten. Wird hineingerissen und fortgespült. Ob Schiller davon wußte? Hätte er dann seines Schaupiels letzter Szene noch eine allerletzte nachgesetzt? Im Sinne von: Alle betroffen – Tell er … trunken!?
Im Tell-Museum steht man staunend vor den Ergebnissen sechshundertjähriger Auseinandersetzung mit ein und derselben Person. Da sie bislang Fiktion blieb, gedieh (und gedeiht) die Phantasie. Freilich bilden alte Schriften – wie das Weiße Buch (Kopie) und Aegidius Tschudis Chronicon Helveticum (das Schiller als wichtige Quelle seines Schauspiels diente) – Grundfesten, auf denen die Nachwelt schweift. Der Telltaumel tummelt sich zwischen Kunstwerk, Rarität und Kuriosität. So steht man Aug’ in Auge mit dem frühesten »echten und wahren Portrait« des Helden.
Beizeiten gab es Bilderfolgen vom mutigen Manne und seinen und der Eidgenossen Taten. Versehen mit klaren Worten Es schwören Hier der Helden Drey, / zu Helffen ab der Tyranni … Der Tell Macht durch sein Schuß behend, / dem Grissler (Gessler – d. A.), und dem Zwang ein End.
Wilhelm in Metall, Edelmetall, Elfenbein, Porzellan, Holz, Gips, Ton. Auf Ofenkacheln und Schreibgarnituren; als Vexierbild und in Noten (Guillaume Tell von Gioacchino Rossini, Opernpartitur, Druck Paris 1829). Auch Schiller ist anwesend, in Wort und Bild. Der Erstdruck seines Schauspiels (Cotta, Tübingen 1804) liegt neben weiteren Ausgaben in vielen Sprachen. Schillern selbst begegnet man auf einer kolorierten Lithographie (um 1835). Der Dichter befindet sich in einer Waldlichtung am Vierwaldstättersee, »mit Blick auf die Tellskapelle und schreibt seinen Tell.« Diese Inspiration erklärt den nachhaltigen Erfolg des Stückes.
Auf andere Weise nähert man sich dem Thema in der schönen Stadt Schwyz. »Tell, bitte melden!«, so heißt die Jubiläums-Ausstellung im Forum der Schweizer Geschichte (Musée Suisse). Eine kaleidoskopartig angelegte, dramaturgisch vorzüglich gestaltete Aussage zur Person. »Tell – der Held für alle Fälle; ausgestattet mit tausend Gesichtern und Motiven.« Eben das macht ihn unsterblich und vielfach verwendbar. Die Schau umkreist den Legendären mit seltenen Objekten, Texten, Szenarien, konträren Betrachtungen; mit Filmen, Wortmeldungen, Werbeplakaten und Witzblättern. Jede Generation gebrauchte, mißbrauchte die National-Ikone für ihre Zwecke, ohne sie je verbrauchen zu können.
Die gewählte Umgangsform mit dem Mythos Tell fordert die Sinne. Das Weiße Buch von Sarnen liegt – im Original – aufgeschlagen hinter Glas. Schiller, Max Frisch, Goethe äußern lauthals ihre Meinung. Rossinis Tell-Ouvertüre säuselt durch die Räume. Eine hohe Stange samt symbolbeladenem Hutsortiment lädt zur persönlichen Nutzung: »Machen Sie es wie Tell. Erkennen Sie, was Sache ist, und verweigern Sie den Gruß jenem Hut, der nichts Gutes verheißt.« Am Haken baumelt eine Mütze der US-Army … Den Treffer landet die Armbrustwerkstatt. Ein Bogner (Armbrustmacher) führt vor, wie er – und wie man im 14. Jahrhundert – Armbrüste fertigt(e). Er überzeugt davon, daß die Treffsicherheit der Waffe bis zu hundert Metern reicht. Der Apfelschuß ist real!
Unberührt vom Tellrausch ruht der geschwungene, verschlungene See der vier Waldstätte im Kranz der Berge. Doch über ihm, irgendwo im Universum, zieht der Planetoid Wilhelm Tell (entdeckt 1991) seine Bahn.