Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Dezember 2004, Heft 25

Russische Avantgarde

von Klaus Hammer

Der Grieche George Costakis war in Moskau bis 1939 bei der Griechischen Botschaft, dann bei der Finnischen und später bei der Kanadischen Botschaft tätig. Bereits 1946 begann er, Werke der russischen Avantgarde aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu sammeln, zu einer Zeit also, wo diese experimentelle Kunst noch verfemt, versteckt und verboten war. Die meisten Arbeiten erwarb er von den Künstlern selbst oder von deren Erben. Seit den 1960er Jahren hat er seine Sammlung dann auch nach Moskau reisenden Diplomaten, Künstlern und Kunsthistorikern gezeigt. Er wurde bald zu einer Vortragsreihe über russische Avantgardekunst in die USA eingeladen, gab Leihgaben aus seiner Sammlung an die großen Museen. Nach seiner Pensionierung im Jahr 1977 siedelte Costakis nach Griechenland über, mußte aber ein Viertel seiner Sammlung der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau zurücklassen. Im Jahre 2000 kaufte der griechische Staat seine Sammlung, in der fast alle Künstler der russischen Avantgarde von 1910 bis 1940 vertreten sind – insgesamt 1275 Einzelstücke –, und richtete ihr ein eigenes Museum, das Staatliche Museum für Zeitgenössische Kunst in Thessaloniki, ein.
Nunmehr hat die Sammlung Costakis ihre Reise nach Berlin und Wien angetreten. In der von den Berliner Festspielen in Zusammenarbeit mit der Griechischen Kulturstiftung besorgten Ausstellung im Martin-Gropius-Bau werden 350 – darunter viele bisher unbekannte – Werke sowie Archivmaterial von etwa fünfzig Künstlern gezeigt.
Die Untersuchung von Licht und Farbe steht im Mittelpunkt, die symbolischen, technischen, dekorativen und wissenschaftlichen Dimensionen im Werk bestimmter russischer Avantgardekünstler und von Künstlergruppen, wobei auch Film, Typographie und angewandte Kunst mit einbezogen werden.
Kasimir Malewitsch erfand den Suprematismus, wie er eine vom Gegenständlichen gereinigte Kunst bezeichnete, die sich in geometrischen Formen und Farben ausdrückt. Farbe sah er als ein Nebenprodukt der erlebten Sinneswahrnehmung an. Sein berühmtes Schwarzes Quadrat auf weißem Hintergrund (1915) bedeutete die völlige Absorption aller Lichtstrahlen und die Aufwertung von Schwarz zu einem vollwertigen ästhetischen Element und allgültigen Symbol für Energie – zur fünften Dimension. Weiß – der Hintergrund von Malewitschs Quadrat – ist das ungebrochene Licht, das physikalisch alle anderen Farben enthält. Wo eine schwarze Farbe plötzlich sämtliche Farben absorbiert, sie »verschluckt«, wird das Schwarze als solches zum Gegenpol des Weißen an sich.
Die neue Richtung der gegenstandslosen Malerei beeinflußte zahlreiche andere russische Künstler wie Puni, Rosanowa, Popowa, Udalzowa und Rodtschenko. Iwan Kljun wollte reines farbiges Licht malen, durch keine Form beschränkt. Wie Malewitsch, Popowa, Kudrjaschow und andere faszinierte ihn die Darstellung des Weltraums und atmosphärischer Erscheinungen, so des Nordlichts. Seine Sphärenkompositionen zeigen den Übergang von streng ebenen Elemente zu sich durchschneidenden und transparenten Formen mit undefinierten Umrissen, die durch ihre Farbigkeit glühen. Ljubow Popowas Gemalte Architektur (1918/19) zeigt diagonal ab- und aufsteigende Ebenen, die sich in ihrer Bewegung kraftvoll gegenseitig zu zerschneiden scheinen. Licht wurde nicht als Helligkeit, sondern als Energie verstanden, die dem Innersten der Bildoberfläche entströmt. Iwan Kudrjaschow entwickelte eine kosmische Abstraktion, die er Weltraum-Malerei nannte. Er stellte dynamische Kräfte dar und gab seinen Werken Titel, die Bewegungspfade durch den Weltraum bezeichnen. Wilhelm Ostwalds Farbenlehre hat vielen russischen Künstlern konkrete praktische Begriffe für den Umgang mit der so schwer faßbaren Farbe gegeben.
Auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten waren die russischen Avantgardisten von der leuchtenden Farbigkeit, der umgekehrten Perspektive, der Rhythmik und klaren Linienführung der russischen Volkskunst fasziniert. Sie fanden in ihr auch erste Ansätze einer Verselbständigung der Farbe von der Form. Sie befaßten sich mit der Leuchtkraft der Ikonen, um ihrem eigenen künstlerischen Willen Ausdruck zu verleihen. In Kljuns Suprematismus: Dreifarbige Komposition (1917) werden drei Grundfarben verwendet: Gelb für den Kreis, Blau für das Dreieck und Rot für das Rechteck. Kljun malte den überlappenden Bereich von Dreieck und Kreis über dem Gelb in Grün, den überlappenden Bereich von Dreieck und Rechteck in Violett und den Bereich, in dem sich die drei Formen überschneiden, in Braun. Als professioneller Musiker begeisterte Michail Matjuschin das Bild eines vibrierenden Universums mit Musik als höchstem Ausdruck. Während Kandinsky in Form von Symbolen und Gefühlen Symphonien malte, wollte er in seinen »Malerisch-musikalischen Konstruktionen« das Unsichtbare sichtbar machen – als Seherlebnis in einem physischen wie metaphysischen Sinne.
Ging es Malewitsch und den Suprematisten um Kunst als Symbol einer gegenstandslosen Welt, war es Wladimir Tatlin, dem Begründer des russischen Konstruktivismus in seiner organoiden Form, um den Übergang von der Malerei und dem Relief zur Produktgestaltung zu tun.
Der Konstruktivismus sollte Malerei, Architektur, Plastik, Theater, Typographie, Buchkunst und Grafik, zu denen sich noch Fotografie, Film und reproduzierende künstlerische Techniken gesellten, in schöpferischen Aktionseinheiten vereinen, um aus der produktiven Gemeinschaft heraus das Gesamtkunstwerk des Industriezeitalters entstehen zu lassen. El Lissitzky, wichtigster Promotor des neuen Stils, wollte mit seinen aus halb geometrischen, halb stereometrischen Formationen bestehenden Gemälden, die er Prounen nannte, die konkrete Unendlichkeit erobern. Das Zentrum des Konstruktivismus waren die Höheren künstlerisch-technischen Werkstätten (Wchutemas) in Moskau, an denen Lissitzky die Leitung der Architekturfakultät übernommen hatte. Doch mit der Verketzerung der progressiven Kunst der Revolutionszeit als »formalistisch« und schließlich dem Verbot unter Stalin mußten die Konstruktivisten in die angewandte Kunst ausweichen. Sie schufen Plakate, Buchumschläge, Illustrationen, Werbegrafik und richteten Ausstellungen im In- und Ausland ein. Etwas von der fast euphorischen Resonanz, die die kühnen Ideen der Russen damals über halb Europa auslösten, kann diese so überzeugend durchkomponierte Ausstellung visuell bewußtmachen.

Martin-Gropius-Bau, Berlin, Niederkirchnerstraße 7, mittwochs bis montags 10 bis 20 Uhr, bis 10. Januar 2005, Katalog 36,00 Euro.