Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 20. Dezember 2004, Heft 26

Das alte Neue?

von Erhard Crome

Am 12. Dezember 1974 beschloß die UNO-Vollversammlung mit ihrer Resolution 3281 eine Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten der Staaten. Das ist fast auf den Tag dreißig Jahre her. Alles nur Geschichte?
Von den damals 138 Mitgliedsstaaten der UNO stimmten 120 dafür, nur sechs dagegen. Das waren die USA und Großbritannien – kein Wunder, widersprach das, was dort beschlossen wurde, doch dem angelsächsischen Grundverständnis von Kapitalismus, woraus ja auch das hervorgehen sollte, was dann »Neoliberalismus« geheißen wurde, – aber auch die Bundesrepublik Deutschland sowie Dänemark, Belgien und Luxemburg. Der Geist der Zeit schien den Protagonisten des ungehemmten Kapitalismus ins Gesicht zu wehen. Bereits ein halbes Jahr zuvor, am 1. Mai 1974, hatte die VI. UNO-Sondertagung Grundlagen einer Neuen internationalen Wirtschaftsordnung beschlossen. Ihr Ziel war eine Verfaßtheit der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, die auf Gerechtigkeit, der souveränen Gleichheit der Staaten und wechselseitiger Abhängigkeit und Zusammenarbeit beruhen sollte.
Die Grundidee der Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten der Staaten, die gleichsam Kern der beabsichtigten Neuen internationalen Wirtschaftsordnung sein sollte, war die konsequente Anwendung der in der UNO-Charta niedergelegten allgemein-demokratischen Prinzipien des Völkerrechts auf die internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Im damaligen Verständnis gehörten dazu das Recht aller Staaten und Völker, die ständige und volle Souveränität über ihre natürlichen Ressourcen und ökonomischen Aktivitäten auszuüben, wozu ausdrücklich auch Enteignung und Nationalisierung ausländischen Eigentums, vor allem der international agierenden, transnationalen Großfirmen gehörte. Die Staaten sollten wegen solcher Nationalisierung beziehungsweise ihrer inneren Wirtschaftsverfassung international nicht diskriminiert werden dürfen. Die Prinzipien der friedlichen Streitbeilegung und der friedlichen Koexistenz sollten auch hier gelten, Gewaltanwendung, das Streben nach Hegemonie und Einflußsphären sowie Einmischung in die inneren Angelegenheiten ausgeschlossen werden. Zugleich wurden weitreichende positive Ziele formuliert: die Ungerechtigkeiten, die aus kolonialer Vergangenheit und neokolonialer Ausbeutung stammten, sollten beseitigt, soziale Gerechtigkeit international gefördert und Entwicklung der weniger entwickelten Staaten durch Zusammenarbeit gefördert werden. Übrigens beschloß der Wirtschafts- und Sozialrat der UNO (ECOSOC) im Dezember 1974 ganz in diesem Sinne die Einsetzung einer Kommission zur Kontrolle der transnationalen Großfirmen.
Der Impuls für eine solche Charta war von der III. Konferenz für Handel und Entwicklung der Vereinten Nationen (UNCTAD) ausgegangen, die im April und Mai 1972 in Santiago de Chile getagt hatte. Es war dies die Zeit der Unidad-Popular-Regierung Allendes, die Zeit der Auseinandersetzungen um die Nationalisierung der riesigen Kupfervorkommen Chiles im Dienste der sozialen Entwicklung des Volkes. Die führenden Politiker der Länder des Südens gingen davon aus, daß die eigene politische Unabhängigkeit, die viele Länder Asiens und Afrikas ja erst in den 1950er und 1960er Jahren errungen hatten, nur dann von Bestand sein konnte, wenn sie durch eine ökonomische Selbständigkeit, die auf Entwicklung und der Realisierung sozialer Ziele beruhte, ergänzt wurde. Der Impetus der Entkolonialisierung sollte auf das Gebiet der Wirtschaft und der internationalen Wirtschaftsbeziehungen ersteckt werden, und die UNO, eine internationale Ordnung des Rechts, wurde als der natürliche Ort angesehen, dies umzusetzen.
Als jene Charta beschlossen wurde, hatte der kapitalistische Gegenangriff längst begonnen: am 11. September 1973, als in Chile die gewählte Regierung gestürzt wurde und Salvador Allende den Tod fand. Vor die Wahl gestellt, die kapitalistischen Eigentumstitel zu erhalten oder aber die Demokratie, entschied man sich für das Eigentum unter der Voraussetzung einer mordenden Militärdiktatur. Chile, das man heute als Musterland des Neoliberalismus anpreist, wurde zum ersten Opfer jenes Angriffs. Und es bleibt von Bedeutung, daß die Einführung des Programms des Neoliberalismus eben am besten unter der Diktatur geschieht – wir sehen heute hierzulande, wie hinderlich den Herrschenden dabei die fortbestehende Verfassungsordnung ist.
Zu den Voraussetzungen jener Charta und der Ideen einer anderen internationalen Wirtschaftsordnung gehörte natürlich auch der staatliche Realsozialismus, der allerdings schon damals nicht tatsächlich aktiv in den Kampf um jene Ordnung eingreifen konnte, weil er bereits zu
jener Zeit nicht in der Lage war, sich an den von den Entwicklungsländern geforderten ökonomischen Programmen zur Regulierung der internationalen Rohstoffmärkte ernstlich zu beteiligen. Das allerdings wurde hinter der rhetorischen Formel versteckt, daß jene Programme ja historisch nicht über den Kapitalismus hinausreichen würden. Nach der Wende wurde Osteuropa selbst zum Aktionsfeld des Neoliberalismus und die ehemals kommunistische Nomenklatura stellt einen beträchtlichen Teil der regionalen Kompradorenbourgeoisie, wie das alt-marxistisch einst geheißen wurde. Aber das ist bereits ein anderes Kapitel.
Es bleibt ein gesunkenes Denkgut. Im Sozialforumsprozeß wird oftmals konstatiert, es gäbe viel Kritik und wenig Alternativen. Manchmal jedoch ist, wie es in Rußland heißt, das Neue nur das gründlich vergessene Alte. Es wird eine neue internationale Wirtschaftsordnung, nun aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts, nicht geben können, ohne auf neue Weise über die Souveränität der Staaten und Völker nachzudenken, auch über ihre natürlichen Ressourcen. Die Charta von 1974 bleibt, trotz aller Zeitbezogenheit, ein Gegenprogramm zu den Bestrebungen der westlichen Regierungen, über Welthandelsorganisation (WTO), Weltbank und Internationalen Währungsfonds die natürlichen Ressourcen der Rechtsordnung der jeweiligen Staaten des Südens zu entziehen. Im Irak wurde gleich nach der Besetzung ein »Privatisierungsprogramm« in Gang gesetzt. Oder wenn die USA erklären, die riesigen Süßwasserressourcen im Grenzgebiet von Brasilien, Argentinien und Paraguay seien »Gemeingut der Menschheit«, dann wissen die Menschen in der Region: gemeint ist ein Gut der USA. Und: Es ist Krieg in Sicht.