Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Dezember 2004, Heft 25

Crossover 2000

von Erhard Weinholz

Früher, das heißt zu DDR-Zeiten, gab es hier und da Sperrmüllcontainer. Ganze Nachlässe fanden sich mitunter darin. Wer sie durchmusterte, blieb nicht lange allein. Oft kam man dabei ins Gespräch, machte sich gegenseitig auf lohnende Stücke aufmerksam.
Heutzutage gelangen Hinterlassenschaften, die den Erben nichts bedeuten, fast immer zum Trödler. Neulich aber entdeckte ich einen Nachlaß in einem Bauschuttcontainer nahe beim Berliner Alexanderplatz. Irgendwer oder irgend etwas war allem Anschein nach gestorben; zurückgeblieben waren etliche Kilo Papier (nachfolgende Auswahl unvollständig):
Ein Plakat: Von Buchstaben, Bildern und Bytes. Symposium 12. und 13. Juni 1998. Im Hintergrund fügen sich kleine bunte Rechtecke zu Mustern, die Bildern aus der Frühzeit der Computergrafik ähneln.
Ein Stapel Werbepostkarten von ic! berlin brillen gmbh: Brillenträger in bläßlichen Bonbonfarben.
Vier Nummern der Zeitschrift line up. electro cultur, Erscheinungsort: Zürich, alle aus dem Jahr 2000. Themen: Computerspiele, Internet, Mode, Club-Tips, Design, Musik, vor allem Musik: »mit ›dimenxionx‹ bringt uns b_key einen thighten amen roller, der sich seinen weg durch ein dunkles synthgefilde bahnt.« Ich merke: Auch heute wird man früh schon alt, nur anders als vor achtzig Jahren. Manche Illustrationen erinnern an technische Zeichnungen aus der Auto-Werbung. Bei anderen versagt mein Assoziationsvermögen. Das Seitenlayout – da könnten PC-Benutzeroberflächen Vorbild gewesen sein. Die Texte dagegen klingen wie aus der Schülerzeitung.
Mehrere Schwarz-Weiß-Fotos. Ein junges Paar schaut von einer Terrasse auf eine gleichförmige Stadtlandschaft. Stehen wohl kurz vor der Trennung – so überdrüssige Gesichter. Einmal lacht sie. Aber da ist sie allein.
Aus dem Internet heruntergeladene Seiten über Management-buy-out. Dazwischen handschriftliche Funktionsdiagramme: Ein Firmenname, darunter der Vermerk »Startseite«, Linien führen zu Kästchen mit Inschriften wie »success story/Wir über uns«, »der catapult«, »Gewinner«. Wahrscheinlich Website-Entwürfe.
Noch mehr aus dem Internet: Smart money. The Wall Street Journal, ebenso wie die Buy-out-Seiten vom 4. September 2000. War das die Zeit, als der Dax noch der 8000 entgegenkletterte? Damals war überall vom Börsenkurs die Rede, selbst im Feuilleton. Man las von Glückspilzen, die vor Jahren Fondanteile erworben und inzwischen ihr Vermögen vervielfacht hatten. Jetzt kriecht der Index irgendwo bei 4000 herum.
Aufkleber in Form und Größe eines breitgeschlagenen Donuts (das ist so eine Art ringförmiger Pfannkuchen, ein Angebot der Coffee-Shops). Die Donuts sind gemustert: kleine blaue Quadrate auf weißem Untergrund. Zweck unbekannt.
Ein älterer Mann, der mich beim Stöbern sieht, kommt heran und fragt, ob unter den Sachen Architektenordner seien, solche mit vier Bügeln? Leider nicht, nur zwei normale. Nach der Währungsunion, erzählt er mir, habe er massenhaft Büromaterial, Geschirr, Möbel aus Containern geborgen, später vieles an Projekte in Polen verschenkt. Er nimmt die beiden Aktenordner unter den Arm und geht weiter.
Ein ungeöffneter Brief vom November 2000, Absender: eine Druckerei. »1. Zahlungserinnerung. Betr: Rechnung Nr. … vom 9. 6. 2000 über DM 452, 40.«
Zwei amerikanische Pornozeitschriften. Hat hier vielleicht ein anderer seinen Müll dazwischengesteckt?
Here, there, elsewhere, ein Büchlein aus dem Jahre 2003. Vorgestellt wird ein popkulturelles Designprojekt: allerlei Zeichen, die wie Firmenlogos irgendwelcher Multis aussehen und Brettern, Stoffen, Fahrradrahmen appliziert wurden. Man kann das auch selber tun, ein Bogen mit Aufklebern liegt bei. Schade, daß es die nicht auch von den DDR-Logos gibt, die hier gleich um die Ecke, Kunst statt Werbung, an den Wänden des U-Bahnhofs zu sehen waren. Opferverbands-Vertreter hatten gegen die Ausstellung protestiert. Das Ironische dieser Nutzung des Staatsnamens scheint ihnen entgangen zu sein.
Drei Dutzend Dias in Taschen. Zwei junge Männer und eine junge Frau. Der links, das Haar kurz und blondiert, sieht aus wie everybody’s darling und wird auf dem nächsten Dia von der jungen Frau umarmt. Straßenszenen – vielleicht London? Mauern, Schornsteine, ein Fensterbrett mit einer gelben Plasteflasche. Immer wieder Blicke über Dächer. Manchmal ist im Hintergrund der Berliner Fernsehturm zu sehen.
Ein Veranstaltungsverzeichnis der transmediale.03. »play global«. Man konnte sich bei WasTun.org einschalten, dem multimedialen Storytelling-Tool. Oder den Podewil Sound Service nutzen, ein Sound-Art Programm, das ästhetische mit politischen Strategien verknüpft. Oder mit Minitasking, dem graphischen Browser, das Gnutella-Netz erkunden.
Ein Prospekt der DVD-Version von Der Herr der Ringe: Die Gefährten, die »Special extended edition«. Die Guten sind schön, die Bösen häßlich, wohlgeordnet ist die Welt von Mittelerde.
Noch zwei ungeöffnete Briefe. Absender: Der Polizeipräsident von Berlin. Ich lasse sie zu.
Vielleicht gibt es in zwanzig Jahren eine Ausstellung New economy. Erinnerung an eine Seifenblase oder so ähnlich. Dann könnte ich, falls nicht inzwischen auch meine Habe beim Trödler oder gar im Container gelandet ist, einiges beisteuern.