Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 8. November 2004, Heft 23

Abschied vom Verstand

von Max Hagebök

Heute stand es wieder in der Zeitung, das politische Horoskop für Parteien und Politiker. In ewigwährender Regelmäßigkeit schütten die Institute politischer Meinungsmache die neuesten Umfragen zur Sonntagsfrage oder zur Beliebtheit von Politikern aus vollen Kübeln in das Volk. Natürlich nicht in Gänze – liebevoll selektiert erfährt das Volk, was es denken soll und später wählen möchte.
Für mich sind diese wunderbaren Zahlen das Highlight schlechthin. Wöchentlich geht meine Phantasie spazieren. Dann sitze ich unsichtbar in den Parteizentralen, an den Küchentischen und in den Redaktionen. Ich besuche die Drei-Einfaltigkeit und höre denen zu, die glauben, was sie glauben wollen. Es wird gedeutet und gebogen, was die Ergebnisse hergeben. Um die Wahrheit geht es wirklich nicht, es geht um Volkes Meinungen. Diese lassen sich die Politiker einiges kosten. Daß das Volk denkt, ist möglich; aber dies will keiner wissen.
Meinungen sind das Salz in der dicken Suppe, die Politiker denen einbrocken, die sie wählen. Aber das Volk löffelt einfach zu gern. Mit gespitzten Lippen schlingt es runter, was ihm vorgesetzt wird. Dann kommt es schon vor, daß es seine Meinung ändert. Volkes Meinung ist ein bizarres Geflecht aus Wissen, Gerüchten, Gehörtem, Geglaubtem und Erhofftem. Mitunter zerreißt dieses Geflecht sehr schnell. Da aber kein Mensch ohne eine anständige Meinung leben will, zerfällt eine Meinung sofort in eine neue.
So meinten sie immerfort etwas anderes, als sie taten, und ernten das, was sie nicht dachten. Mit diesem Glaubenssatz der neuen Modernen gestaltet sich eine politische Klasse, deren merkwürdigste Seite die ist, keine Politik mehr zu machen.
Überall wird die ursprüngliche Arbeitsaufgabe von den Politikern verweigert. Dabei berufen sie sich auf sachliche Zwänge und deren gesetzmäßige Natur. Mit diesem neoliberalen Determinismus öffnet Politik das Tor für den letzten Marxisten alter Prägung. Hinein in den lustvollen Tempel des ewig bestimmenden Seins und des nachhinkenden Geistes. Es paßt sich zusammen, was geschwisterlich entstand.
Bei meinem Stöbern in den wunderbaren Meinungen des Volkes werde ich nie überrascht. So fand ich es lächerlich, von einer Krise der SPD zu reden, bloß weil das Volk eine Langeweile keine Lust mehr hatte, diese zu wählen. Gottlob haben die bundesdeutschen Moderatoren der demokratischen Verlage dem Volke nicht zum Munde geredet und Hartz IV ins rechte Licht gerückt. Der soziale Bruch heilte zur politischen Prellung. Und das Volk meinte wieder, daß die Sozis immer noch besser seien als die anderen. Jetzt meint dies auch die Gewerkschaft wieder. Ich meine das natürlich auch.
Bloß für die PDS meint es sich wieder schlechter. Denn die meinten sich schon wieder im Bundestag. Und außerdem meinte sie alles richtig zu machen. Jetzt müssen sie wieder denken. Aber das wird ihnen nicht schwerfallen, da sie viele arbeitslose Politiker haben, die in Lohn und Brot stehen.
Mit diesem klassischen Übergang, ohne den kein kritischer Geist heute auskommt, bin ich bei meiner Lieblingsrubrik »Beliebtester Politiker«. Es gibt kein absurderes Meinungsbild über das deutsche Volk als diese Darstellung. Ich unterstelle dem Volk, ein wirkliches Cleverle zu sein. Anders ist nicht zu erklären, daß seit Jahren Fischer auf Platz 1 der Hitliste steht.
Ich begründe mir dies zweifach. Erste Variante basiert darauf, daß das Volk die Frage nicht versteht. Ein vernuscheltes beliebt klingt stark nach beleibt. Da Kohl aus dem Rennen ist, steht dem Fischer der erste Platz zu. Soweit noch logisch.
Bei der zweiten Variante entscheidet das Volk danach, wer es von den politischen Würdenträgern am wenigsten stört. Da Fischer seit Monaten verliebt abgetaucht ist, gelingt es ihm, menschliche Anteilnahme auf sich zu kaprizieren. Ähnlich wurstelt sich Wowereit durchs Leben. Was mich nicht stört, denn zu dem gibt es keine Meinung, also somit eine gute. Denkt das Volk.
Für PDS-Politiker ist bundesweit kein Platz auf der Skala der Störenfriede. Sicherlich findet sich bald ein Vordenker, um daraus widerständlerisches Potential zu philosophieren. Für Berlin ist es leider schon zu spät. Da hat sich das Volk eine Meinung gebildet.