Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 25. Oktober 2004, Heft 22

Schreib das nicht auf, Kisch!

von Mathias Käther

»Er hält wohl einen ›roten Goebbels‹
für etwas ebenso Schimpfliches,
wie es der braune Goebbels ist. (…)
Was Wirkung und Wirksamkeit anbelangt,
würden die Antifaschisten in der Tat
einen Gegengoebbels brauchen.«
E. E. Kisch, Über Gustav Regler, 1941

Ich ziehe nächsten Monat in eine kleinere Wohnung, um Gottes willen nicht noch mehr Bücher! Also bloß weg von diesem Antiquariat! Ich bin schon einige Meter weiter, da taumle ich überrascht zurück. Was stand da? Alle Belletristik zum halben Preis? Hm. Man kann ja mal …
Eine halbe Stunde später taumle ich wieder auf die Straße, diesmal wegen des Gewichtes unterm Arm. Die alte Kisch-Ausgabe des Aufbau-Verlags in elf Bänden für zwanzig Euro: Das kann man doch nicht einfach stehenlassen, oder?
Die nächsten Tage bin ich nicht erreichbar. Für niemanden. Außer für Kisch. Ich durchwühle, durchblättre, durchstöbere eines der großen Editionswunder der DDR-Verlagsgeschichte.
Diese quittegelbe Ausgabe ist ein Phänomen. Als Bodo Uhse und Gisela Kisch sie 1960 begannen, mit einem äußerst unpopulärem Band übrigens, der fast nur Nebenarbeiten enthält, konnten sie nicht ahnen, daß sie ein paar Jahre später schon nicht mehr leben würden – trotzdem brachte der Verlag zäh und entschlossen nach ihrem Tod bis in die achtziger Jahre den ganzen Kisch heraus. Im Abschlußbericht des letzten Bandes heißt es stolz, natürlich sei die Kisch-Forschung noch nicht am Ende, viele Artikel in kleineren Zeitschriften und anonyme Arbeiten blieben noch zu entdecken, »davon abgesehen liegt das Werk Kischs nunmehr annähernd vollständig vor.«
Welcher Meister der kleinen Form hat so eine Ausgabe bekommen? Mir fallen nur Börne und Ossietzky ein, an Tucholsky, Auburtin, Kerr wird noch gebastelt, bei manchen Autoren wie Polgar, Holitscher und Tergit bleibt es wohl für immer bei Auswahl-Editionen. Manche Großen, wie Siegfried Jacobsohn oder Mechtilde Lichnowsky, haben beinahe überhaupt keine Buchbrücke mehr in die Gegenwart.
Warum erfuhr Kisch im Osten die große Ehre einer Gesamtausgabe? Die Antwort ist einfach: Weil er der einzige geniale marxistische Parteijournalist in der deutschen Literatur war. Ein unorthodoxer zwar, aber immerhin ein Vorzeigekommunist. Jedenfalls für damalige Verhältnisse.
Daß fast alles von Kisch bis heute frisch und fesselnd geblieben ist, macht sein Genie aus. Seine Neugier, seine Fröhlichkeit, sein vorwärtsdrängender Prosarhythmus bestechen nach wie vor. Aber es erscheinen beim Blättern in der Werkausgabe neue Facetten, die seine Gestalt aus heutiger Sicht brüchiger, fragwürdiger machen.
1926 berichtet Kisch für das Tagebuch – Stefan Großmanns wunderbare Apotheose der »Neuen Sachlichkeit« in Zeitschriftenform – über Rußland. Ich habe diese Texte, die Kisch später in das Reisebuch Zaren, Popen, Bolschewiken übernahm, vom Schmökern im Tagebuch noch gut in Erinnerung. Und lese in der Gesamtausgabe noch einmal die ungewöhnlich plastische Schilderung der staatlichen Maidemonstration auf dem Roten Platz. Ick gucke einmal, ick gucke zweimal, ick denk, nanu? Wo isser denn? Der kritische Ton nämlich. Irgendwas fehlt da.
Ich vergleiche das Buch mit dem Originalartikel. Dort steht unter anderem: »Alles schön und gut – aber wenn man der (…) Kundgebung einige Stunden zugesehen hat, (…) stellt man sich die Frage: Für was und gegen wen demonstriert diese Demonstration? Es ist und bleibt doch eine Staatsveranstaltung.«
Solche wunderbaren Stellen fehlen im Buch. 1927, jetzt schon eingeschworener Sowjet-Parteigänger, tilgt Kisch diese Passagen stillschweigend. Und bezeichnenderweise gibt es auch in der Aufbau-Ausgabe keinen Hinweis auf solche »Differenzen« zur Erstfassung. Meine Name ist Hase, ich weiß von nichts. Als ergänzendes Puzzleteil erscheint dann in einem russischem Blatt – auch 1927 – ein gehässiger Artikel von ihm über deutsche Schriftstellerkollegen: Für Döblin und Flake »ist die Uhr abgelaufen«, Leute wie Stefan Zweig und Thomas Mann »besaßen einen breiten Leserkreis, doch sie hatten Mühe ihn nicht zu verlieren«. Und nun geht es gegen die eignen Gesinnungsgenossen: Ernst Toller »fand noch in keinen sicheren ideologischen Hafen«, (als sei das keine Tugend), und dann kommt ein Satz, der einfach eine Infamie ist, weil man nicht mit Steinen werfen soll, wenn man im Glashaus sitzt: »… in unserer Zeit, in der es für Träumereien überhaupt keinen Platz mehr gibt, träumt er immer noch …« (Es lebe die neue Sachlichkeit, Genosse Kisch!) Und sogar Brecht wird abgekanzelt als »etwas talentierter als Bronnen, aber vorzeitig mit Lob überschüttet.«
Vollends peinlich liest sich vieles aus der Zeit des Heimgekehrten aus dem Exil. Manches ist pure Hofschranzerei. Über eine Ansprache vom rhetorisch nicht grade hochbegabten Staatschef der Tschechoslowakei, Klement Gottwald: »Die Rede war klar, nüchtern, sachlich und logisch, wie ich noch nie eine gehört habe. Es scheint mir unmöglich, aus ihr nur einen Satz wegzulassen. Ich bin glücklich, daß unter den tausend Genossen, die die Worte des Genossen Gottwald aufnahmen, auch ich sein konnte.«
Schlimmer, devoter, linientreuer geht es nicht. Und doch stehen im »rasenden Reporter« die berühmten Sätze: »Der Reporter hat keine Tendenz. (…) Er hat unbefangen Zeuge zu sein …«
Der scharfsichtige Tucholsky traute diesem Satz schon 1925 nicht übern Weg und winkte in seiner erstaunlich kühlen Rezension lakonisch ab: »Das gibt es nicht. Es gibt keinen Menschen, der keinen Standpunkt hätte. Auch Kisch hat einen.«
Kisch hatte einen, und der war nicht immer erfreulich.
Dennoch – Kisch war ein großer Künstler, der zu viel gesehen, zu viel erlebt hatte, um wirklich einzurosten, einer Doktrin alles zu opfern – er hat es versucht, es ist ihm nicht geglückt. Vielleicht macht das heute, mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod, den Reiz seiner Schriften aus: Unbestechlicher Journalist kontra bestechlicher Kader. Man kann bekanntlich viele seiner Reportagen als Gleichnisse lesen, die berühmte von den siamesischen Zwillingen, von denen eine ein Kind bekommt, während die andere müßig im Wochenbett daneben liegen muß – das ist ein schönes Bild von Kischs seelischem Zwiespalt.
Seine Prosa ist nicht immer gut, manchmal »glatt«, wie Tucholsky das nennt, aber oft überragend. Das springt dem Leser beim Blättern in dieser wundervollen Aufbau-Ausgabe in die Augen: Man weiß nie, wann er »gut« wird, es passiert unvermittelt, innerhalb eines Textes, einer Rede, plötzlich sind da drei so wundervoll geschriebene Seiten, daß einem die Tränen in die Augen steigen. Kischs provinzielle Naivität ist eben ambivalent – mitunter hinreißend, weil er alles so staunend und kindlich anschaut, manchmal bedrückend bei der kritiklosen Übernahme ideologischer Fertigprodukte aus der Werkstatt Stalins.
Es heißt in einer seiner mexikanischen Exilreden: »Ich habe Prag nie verlassen, so intensiv auch ich mich davon entfernte, so intensiv ich in allen Weltteilen lebte. Und ich lebe auch jetzt dort, ob ich hier zu Ihnen spreche oder allein zu mir selbst.«
Selten hat Kisch, vielleicht ohne es zu ahnen, seine Größe und seine Grenzen so prägnant formuliert wie in diesen beiden Sätzen.