Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 25. Oktober 2004, Heft 22

Das letzte späte Jahr

von Kai Agthe

Ein Abschied auf 75 Seiten, eine literarische Todesahnung in fünf kurzen Kapiteln. Späte Jahre ist das letzte Werk von Hanns Cibulka, der am 21. Juni 2004 83jährig in Gotha starb. Im Schatten von Schloß Friedenstein – von dem wir dank der Lektüre wissen, daß es zweitausend Fenster zählt – lebte der 1920 in Jägerndorf im Altvatergebirge (heute Krnov, Tschechien) geborene Schriftsteller fünfzig Jahre. Ein halbes Jahrhundert ist es auch her, daß unter dem Titel Märzlicht (Halle 1954) Cibulkas erstes Buch erschien.
Am Ende war er wohl sehr einsam: »Je älter ich werde, um so fremder wird mir die Stadt«, heißt es in Späte Jahre. Alte Freunde und Weggefährten starben – und dem Autor stand zuletzt wohl kaum ein Mensch so nahe wie seine Katzen, die er in den vorliegenden Miniaturen natürlich liebend erwähnt.
Von Reisen berichtet er allenthalben. Italien war für Hanns Cibulka ein wichtiger geistiger und emotionaler Bezugspunkt. Doch zeigt sich ebenso bald, daß die hier beschriebene Rückkehr an die geliebten Orte nur erinnerte Exkursionen sind. Imaginäres Zentrum ist das wiederholt aufgerufene Castel del Monte, das zum Inbegriff all dessen wird, was Hanns Cibulka an Italien im allgemeinen und Apulien im speziellen schätzte. An anderer Stelle aber auch das nachhaltige Bekenntnis zur langjährigen Wahlheimat: »Thüringen – ich liebe diesen Landschaftsstrich«. Es muß keinen Widerspruch darstellen, wenn er im gleichen Atemzug seiner mährischen Herkunft und seiner Kindheit daselbst gedenkt. Späte Jahre ist ein Erinnerungsbuch, und auch hier gilt: Je älter die Erinnerungen sind, desto kräftiger treten sie hervor.
Aus Hugo von Hofmannsthals Rosenkavalier wird eingangs zitiert. Es kann also kein Zufall sein, wenn wir an späterer Stelle lesen: »Die Zeit, in der wir heute leben, ist eine Zeit für Jedermann. Wer ist dieser Jedermann?« Was von Cibulka als Zivilisationskritik gemeint ist, bekommt durch den indirekten Rückbezug auf Hofmannsthals Spiel vom Leben und Sterben des »Jedermann« eine zutiefst existentielle Konnotation. Dazu passen auch Aussagen wie »Meine Zeit läuft ab« und »Die Altersmüdigkeit nimmt zu«. Die bleierne Last des Alters kann der Erzähler mit keinen Menschen, nur mit dem von ihm angesprochenen Engel teilen (welcher Gestalt er auch immer sein mag): »Du wirst müde sein, mein Engel, achtzig Jahre lang hast du an meiner Seite die Stunden gezählt, Tag für Tag.« Von dieser Pflicht wurde der treue Begleiter nach genau 83 Erdenjahren entbunden. Das Buch Späte Jahre ist, wie wir nun wissen, der Schwanengesang des thüringischen Autors.
P. S.: Im Juni 2001 hatte ich in Nordhausen die dankenswerte Aufgabe, eine Lesung von Thomas Spaniel und Hanns Cibulka zu moderieren. Der Gothaer Autor las aus seinem damals jüngsten Band Sonnenflecken über Pisa. Auf meine Frage, wie ich ihn dem Publikum vorzustellen habe, antwortete Cibulka mit der ihm eigenen Bescheidenheit: »Kurz bitte!« Und genau so hat sich der Lyriker und Diarist nun auch von seinen Lesern verabschiedet.

Hanns Cibulka: »Späte Jahre«. Tagebuchaufzeichnungen. Reclam Verlag Leipzig 2004, 75 Seiten, 6,90 Euro.