Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 13. September 2004, Heft 19

TAMARA statt TINA

von Wolfram Adolphi

Keiner weiß, wie sich das weiterentwickeln wird mit den Protesten gegen Hartz IV. Vielleicht – mag man im Kanzleramt meinen – läuft es sich ja tot mit den Demos. Und vielleicht wird es ja auch tatsächlich so kommen: weil die Zahl der Demonstrierenden nicht größer wird; weil sich die Reden jeden Montag gleichen und sich ja doch nichts ändert; weil alles irgendwie diffus bleibt auf den Straßen. Wer geht da eigentlich neben einem und mit welchem Ziel, und wer gibt den Dingen eine kräftebündelnde Richtung, und wenn es einen solchen nicht gibt: warum eigentlich nicht?
Und dann hat man »da oben« im Oktober vielleicht schon tatsächlich Ruhe. Da sind dann die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg vorbei, Bundestag und Bundesrat sind aus dem Sommerloch zurück, und man klopft sich gegenseitig auf die Schulter, die hochgereckte, denn man hat sich »dem Druck der Straße nicht gebeugt«.
Und genau darum ist die Lage ernst. Weil sie alle »da oben« immer noch glauben, es gehe weiter so wie immer. Weil sie ihre TINA-Politik (There Is No Alternative – Es gibt keine Alternative) nicht nur betreiben und lauthals und selbstgerecht immer wieder verkünden, sondern weil sie sich auch selbst völlig in ihr verfitzt und verfangen haben. Wer Volkswirtschaft auf Betriebswirtschaft, die öffentliche Wohlfahrt auf die Wohlfahrt privater Dienstleistungsunternehmen, das Parlament auf einen Zuschauerraum für »Experten«-Kommissionen und den Osten seines »einigen Vaterlandes« auf ein Testfeld für komplexe Deregulierung reduziert mit dem »Neben«effekt, kostengünstiger Lieferant hochmotivierten, flexiblen Nachwuchses für den Westen zu sein, der kann offenbar nicht anders, als sich auch selbst zu reduzieren. Auf ein Niveau, das den Herausforderungen der Zeit nicht mehr gewachsen ist.
Die Lage ist ernst, weil sich die politische Klasse zwei Dinge offenbar komplett hinwegreduziert hat: Visionen und Geschichtsbewußtsein.
Visionen hat sie durch die Vergöttlichung des Marktes ersetzt. Das ist wirklich ein erstaunlicher Vorgang: Wie es durch ständige Wiederholung und tausendfache mediale Multiplizierung gelungen ist, im Bewußtsein vieler die Wirtschaftspolitik ihres planenden, entscheidenden und handelnden Subjekts zu berauben. Doch!, möchte man darum immer wieder rufen, tatsächlich!: Die unser aller Leben betreffenden Entscheidungen über die Wirtschaft in der Welt und in Europa und in Deutschland sind nicht vom lieben Gott und nicht »vom Markt« gemacht, sondern von Menschen. Ja!, von Menschen aus Fleisch und Blut, Menschen wie du und ich! Fast kindlich, ein solcher Satz, nicht wahr?
Aber ebenso richtig. Und nähme man ihn ernst, fände man den Weg zurück zu den Visionen, zurück zur Phantasie, denn wäre man sich wieder sicher, daß es zum Handeln von Menschen immer Alternativen gibt. TAMARA statt TINA: There Are Many And Realistic Alternatives – es gibt viele und realistische Alternativen. Die einfachste und noch ganz und gar systemimmanente besteht in einer an Keynes orientierten Wirtschaftspolitik: Kaufkrafterhöhung zur Wirtschaftsankurbelung. Aber für die TINA-Gefesselten gilt heute selbst das schon als schierer Systembruch. Wo soll da noch Platz zum Weiterdenken sein?
Und Geschichtsbewußtsein hat sich auf das willkürliche Zurechtbiegen von Einzelereignissen reduziert – ein Vorgang, der zwangsläufig mit Weglassen, Verschweigen, Verdrängen und mit der Denunziation anderer Sichten verbunden ist. Nur ein paar Beispiele, die aber im Bewußtsein der Ostbevölkerung offenbar um so fester lebendig geblieben sind: »Vergessen« hat man in den Regierungsstuben, daß auf den vom Osten herbeigeführten Mauerfall mit gleichzeitiger Hinwegbeförderung des Realsozialismus noch ein halbes Jahr politischer Aufbruch in der DDR folgte – mit Visionen, Formen und Methoden, wie es sie in der alten Bundesrepublik nie gegeben hat. »Vergessen«, daß der Westen dann unter Liquidierung aller DDR-Erfahrungen de facto alle entscheidenden Schaltstellen des Lebens im Beitrittsgebiet entweder selbst oder mit einigen wenigen ihm genehmen Leuten besetzt und alle bundespolitischen Entscheidungen über den Osten ganz allein aus der (freilich: Mehrheits-)Sicht des Westens getroffen hat und darum seither auch für alle Konsequenzen dieser Entwicklung die Hauptverantwortung trägt; bis zur Absurdität getrieben der Vorwurf an die linke Opposition im Osten – und nun auch an die Montagsdemonstranten –, sie vertieften die Ost-West-Spaltung, da doch selbst beim Arbeitslosengeld II der Hartz-IV-Gesetze 14 Jahre nach dem Einigungsvertrag noch beharrlich zwischen Ost (331 Euro) und West (345 Euro) unterschieden wird.
Aber als ob das nicht alles schon ernst genug wäre, kommt etwas weiteres sehr Ernstes hinzu: »Vergessen« sind auch die Entwicklungen der Jahre 1928 bis 1933. Hinweggewischt wurde Oskar Lafontaines mehrfacher Verweis auf Reichskanzler Brüning, anstatt ihm ernsthaft nachzugehen. Selbstverständlich gibt es Parallelitäten zwischen heute und damals: Auch damals wurde in einer weltpolitisch und weltwirtschaftlich hochkomplexen und komplizierten Krisenlage in Deutschland von Menschen unter Berufung auf »den Markt« und »die Weltwirtschaftskrise« die Entscheidung getroffen, lieber auf Deflation zu setzen – was mit sich brachte: Anstieg der Arbeitslosigkeit auf Rekordhöhe, massenhafte Bankrotte im kleinen Mittelstand, Verrohung der Arbeitsverhältnisse, Verarmung und existentielle Verunsicherung bis in die eben noch »sicheren« Schichten der »soliden« Angestellten hinein – statt die antizyklische Konjunkturbefeuerung zu wählen. Wie es ausging ist bekannt. – Ist bekannt? Aber ist es auch abgeklopft auf all seine Dimensionen – und nicht nur auf die üblichen Schemata von rechten und linken Feinden der Demokratie? Dann müßte man ja wohl hin und wieder auch an die Interessen »der Wirtschaft« jener Zeit an genau diese Massenverarmung erinnern.
In Sebastian Haffners Von Bismarck zu Hitler aus dem Jahre 1987 zum Beispiel ist trefflich nachzulesen über die demokratie- und entscheidungsmüde gewordene Dienstklasse der Weimarer Republik und darüber, wie sie aufatmete, als ihr das alles endlich von einer Diktatur aus der Hand genommen wurde.
Die Lage ist ernst, weil die Verwirrung wächst. Klar ist: Auch wenn die Demonstrationen ergebnislos einschlafen sollten – das Potential zum Aufbegehren bleibt, es ist nicht mehr hinwegzureden. Was aber wird aus ihm? Wann und wohin bricht es auf?
Die Lage ist ernst, weil die linke Opposition unentschlossen ist – und die Gesellschaft ist unschlüssig, was sie von der linken Opposition im nach wie vor politisch geteilten Land wollen soll. Die im Westen erdachte und erst im Entstehen begriffene Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit genoß größte Medienaufmerksamkeit in der Zeit vor den Montagsdemonstrationen, jetzt hingegen ist es stiller um sie geworden. Bewegungen wie Attac und manche andere sind aktiv, haben aber noch immer nur eine offensichtlich begrenzte Bindungskraft. Die PDS als nach wie vor im Osten breit verankerte und im parlamentarischen Raum der gesamten Republik einzige Kraft dieser Opposition erlebt nach ihrem Erfolg bei den Europawahlen und den thüringischen Landtagswahlen nun in Brandenburg, was sie in diesem Ausmaß zuvor noch nie erlebt hat: Der Kunde droht mit Kauf, und zwar mit aller Konsequenz. An der Spitze der Wählergunst steht die PDS derzeit, aber kann – und will! – sie diese Bürde tragen? Ein erster Schritt ist gemacht: Eine Bundesratsinitiative gegen Hartz IV soll gestartet werden. Das hieße in der Tat, »die Straße« mit »der großen Politik« zu verbinden. Aber ist dieses Ziel mit genügend persönlichem Mut und couragierter Risikobereitschaft verbunden? Ist man bereit, sich mit der SPD endlich selbstbewußt auch da, wo man mitregiert, und da, wo man vielleicht in ein solches Mitregierungsverhältnis kommen könnte, energisch anzulegen? So energisch, daß die Öffentlichkeit einmal in die Lage kommt, auch außerhalb von Wahlen Stellung zu beziehen? Zum Beispiel mit Kundgebungen – warum eigentlich traut man sich das nicht zu denken? –, mit denen auch eine ausdrückliche Unterstützung der PDS gemeint ist? Gestaltet von Leuten, die erlebt haben, daß es genau diese Partei ist, die ihre Interessen wahrnimmt, und die sie deshalb, weil sie eine andere Politik macht, in der Regierung haben und im Streit auch unterstützen wollen? Und die die Buchstaben im Parteinamen ernst nehmen, die ja doch mit demokratisch und sozialistisch zu tun haben?
Die Lage ist ernst: Es geht bei dieser Frage bei weitem nicht nur um das eine oder andere Prozent der Partei. Es geht darum, ob die PDS es vermag, dem parlamentarisch-politischen Raum insgesamt Glaubwürdigkeit zurückzugeben und Brücken zu bauen zwischen ihm und den Protestbewegungen, deren Nutzung nicht zu einer Schwächung, Aufsaugung, Austrocknung dieser Bewegungen führt, sondern in emanzipatorische Formen demokratischer Teilhabe mündet. Beteiligung an den Protesten jetzt – und dann, wenn die Wahlen gelaufen sind, der Rückzug in die Hinterzimmer des Auskungelns neuer »Alternativlosigkeiten«: Dies wäre ein erneutes Zerschlagen von Hoffnung, die da gerade im Aufglimmen begriffen ist; dies wäre nichts anderes als ein weiterer Beweis dafür, daß »die da oben« ohnehin alle nur die gleichen sind. Wer so etwas auf sich nimmt, muß wissen, was er tut. Muß sich fragen lassen, ob das wirklich diesen Zeiten und dieser Lage angemessen ist.
Die Lage ist ernst. Bald werden wir wissen, ob sie auch hoffnungsvoll ist.