Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 13. September 2004, Heft 19

Rhetorlin forte

von Jürgen Schaepe

Endlich ist es da! Die Pharmaindustrie hat lange gebraucht, um dieses Medikament auf den Markt zu bringen: Rhetorlin forte. Keiner muß fortan an Dysfunktionen seines Sprachvermögens leiden, niemand mehr muß sich künftig über höchst unvollkommene Redner in der Öffentlichkeit ärgern, denn zwei Wissenschaftler von GERONTOPHARM Basel, Urs Lari und Friedhelm Fari, haben ein Mittel entdeckt, das synaptische Verspannungen in der linken Hirnhälfte beseitigt und den ganzen Hirnlappen besser mit Sauerstoff versorgt. Das bewirkt, daß der Sprechvorgang jeweils erst nach dem Denkvorgang ausgelöst wird und nicht umgekehrt. Selbst hartnäckige Hirnverhaltungen und Sprechdurchfälle, wie sie aufgeregten Parlamentariern, Werbefuzzis und sonstigen Meinungsverbreitern zuweilen widerfahren, lassen sich mit Rhetorlin forte erfolgreich behandeln.
Ein erstes positives Beispiel bietet der aus den Medien bekannte Landtagsabgeordnete MdL Doktor Frank Frei. Der kühne Wortakrobat mit Sätzen wie »Mit angesagtester Professionalität werden wir die Strukturen unserer Kommunikationssysteme und Informationsprozesse einer Harmonisierung unterwerfen und so das Grundbedürfnis nach prozeßorientierter Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft in den Griff bekommen« hat sich einer nur sechswöchigen Therapie mit der Sprachkompetenzpille unterzogen. Seitdem redet er wieder klar und verständlich, meidet Anglizismen und unterläßt übertriebene Versprechungen. Selbst eine gewisse innere Logik ist seinen Ausführungen nun nicht mehr abzusprechen. Daß er beim Reden sogar die Hände aus den Hosentaschen nimmt, ist ein schöner Nebeneffekt des Präparates.
Der Wirkstoff des Produktes besteht übrigens aus 0,4 Milligramm Realisol, einem Extrakt aus Zeitungsenten und dicken Hunden, den Lieblingstieren von Medienleuten, und 0,3 Milligramm Hexatranquillin. Die Droge Hexatranquillin wird schon seit Jahrhunderten im Voodoo-Zauber auf Haiti zur Herbeiführung ekstatischer Bewußtseinserweiterungen und energischer Selbstkontrolle eingesetzt.
Lari und Fari versprechen sich durch Rhetorlin forte – auch für die Schweiz – eine deutliche Anhebung der Sprachkultur und eine Verminderung rhetorischer Fehlleistungen. Noch ist nicht bekannt, wie sich die Wirkung einstellt. Offensichtlich erfolgt aber eine produktiv-neuronale Untersteuerung im Broca-Zentrum des linken Hirnlappens, die zu einer Verlangsamung und kritischeren Auswahl von Worten und einer sinnvollen Verknüpfung zu ganzen Sätzen führt. Vor allem entsteht während des Sprechvorgangs eine natürliche Blockade gegenüber der inflationären Verwendung von Anglizismen, aufgeblähten Worthülsen, modernistischen Versatzstücken usw., usf., etc., pp. Damit erfolge, so die beiden Schweizer Experten, ein überlegterer Gebrauch der reichen, unzähliger Schattierungen fähigen Muttersprache.
Den beiden begnadeten Pharmazeuten ist es mittels einer neuartigen Technologie sogar gelungen, die Pillengröße der strengen EU-Norm für pharmazeutische Präparate anzugleichen. Somit passen die Arzneien in jede durchschnittliche europäische Speiseröhre.
Da GERONTOPHARM den Bedarf an Rhetorlin forte als riesig einschätzt, plant der Konzern seine ebenfalls erfolgreichen Produkte Prostatan und Menopausin zugunsten des ersteren vom Markt zu nehmen. Es sei schließlich wichtiger, einer »modernen hyperaktiven Innovations- und Eventsrhetorik« etwas entgegenzustellen als simple Alterungsprozesse aufzuhalten.
Nebenwirkungen nach der Einnahme von Rhetorlin halten sich übrigens in engen Grenzen. Es sind lediglich geringe Blutdrucksteigerungen und eine Minderung der Liquidität bekannt geworden. Diese Symptome stellen sich jedoch nur unmittelbar nach Begleichung der Rechnungen in den Apotheken ein und lassen dann schnell nach. Das Zeugs hat nämlich seinen Preis.