Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 30. August 2004, Heft 18

Der frühe Kandinsky

von Klaus Hammer

Er war schon dreißig, als er 1896 nach München kam, um Malerei zu studieren. Aber binnen weniger Jahre wurde der Russe Wassily Kandinsky zum radikalen Erneuerer der Kunst unserer Epoche. Sein Glaube an eine abstrakte Farbensprache kam aus seinen ungewöhnlich starken optischen Reaktionen. Er besaß ein absolut eidetisches Gedächtnis, konnte sich auf Befehl Form, Farbe und Ort eines jeden Gegenstandes vor Augen rufen und sie wie mit einer Laterna magica auf die wirkliche Welt projizieren. Er vermochte Farben – Rosenrot, Karminrot, Gelb, Azurblau, Smaragd oder dunkles Veilchenblau – zu »hören« und Klänge zu »sehen«. Und er war genauso wie van Gogh besessen vom Stilmittel der Personifikation, nämlich Nichtmenschlichem menschliche Gefühle zuzuschreiben. Als Emigrant in München und danach im Voralpenland, in Murnau, war er besonders empfänglich für die mystisch-romantischen Strömungen des Jugendstils, dieser sehr abstrahierten Form der Art nouveau, und als Russe fühlte er sich der Tradition der Ikonenmalerei verpflichtet. Nimmt man dann noch seine Liebe zur Volkskunst hinzu – von russischen Bauernwebereien über bayerische Hinterglasmalereien bis hin zu den gänzlich abstrakten Mustern arabischer Fliesen und Stoffe –, dann hat man eine Vorstellung von der unvergleichlichen Farbigkeit seiner Bildgründe.
Nach dem Kunstforum Wien stellt jetzt das Von-der-Heydt-Museum Wuppertal das frühe Schaffen Kandinskys von 1900 bis 1921, also bis zur Einladung von Walter Gropius an das Bauhaus Weimar, vor. Dieser Weg von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion kann deshalb so überzeugend dokumentiert werden, weil wichtige Werke aus russischen Museen, die bisher kaum außerhalb Rußlands gezeigt wurden, als Leihgaben gewonnen werden konnten. Weitere ausgewählte Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen kommen aus den USA, aus Holland und aus deutschen Sammlungen.
Neben einigen neoimpressionistischen Landschaftsbildern in Öl malte Kandinsky anfangs in Tempera russische Motive und mittelalterliche Szenen. Das erste große Bild, Das bunte Leben von 1907, läßt auf dem Gipfel eines Berges golden den Kreml wie das himmlische Jerusalem über einer bunten Menge erstrahlen. Es scheint kaum vorstellbar, daß derselbe Künstler drei Jahre später das erste abstrakte Bild in der Kunst malen würde. Dennoch lassen sich zwischen den Farbtupfern der russischen Szenen und Märchenbildern, die juwelenartig auf dunklen Grund gesetzt sind, oder den unregelmäßigen Flecken und gegeneinander abgesetzten reinen Farbzonen der ersten Murnau-Landschaften und ersten »Improvisationen« von 1908/09 schon Verbindungen ziehen zum Divisionismus der Neo-Impressionisten und den frühen Bildern der Fauves (Matisse und Derain). Gerade bei den leuchtenden Gelb-, Blau- und Rottönen, die ab 1907 Kandinskys Leinwand beherrschen, muß man unwillkürlich an die betont reinen Farben der Fauves denken. Über die Farbzerteilung der Neo-Impressionisten und über die Technik der Fauves, die allein durch Farbe bewegte Strukturen auf der Bildoberfläche erzielten, gelangte der Künstler allmählich zur Auflösung des Gegenstandes.
Die Murnau-Landschaften markieren einen künstlerischen Neubeginn, sie zeigen eine üppig farbige, spielzeugartige, lustvolle Welt, eine leuchtende tupfenartige Farbgestaltung, und diese romantische Vision der Unschuld taucht in Kandinskys Arbeiten als Relikt einer vergangenen slawischen Märchenwelt immer wieder auf: Reiter, Schlösser, Lanzenträger, Segelboote, Regenbogenbrücken und anderes. Indem er aber die Farbe zum Selbstzweck erhob, konnte er die allzu simplen Assoziationen dieser Bilder unter Kontrolle bekommen.
Ein erster blauer Reiter galoppiert schon 1903 über Berg und Tal. Pferd und Reiter erhalten dann sogar monumentale Proportionen, hinter denen die Landschaft zurückbleibt. Die letzte Wandlung erfährt der Märchenritter im Sinnbild des Heiligen Georg, des Drachentöters, der auf vielen seiner Gemälde, Aquarelle, Holzschnitte, Skizzen und Hinterglasbilder erscheint. Schließlich schmückt der kämpfende Ritter den Umschlag des Almanachs Der Blaue Reiter. Wenn auch der Durchbruch zur Abstraktion erst 1910 einsetzt, werden Kandinskys künstlerische Absichten schon viel eher ersichtlich: Seine Bilder sollten einen Geisteszustand schildern, sollten Manifestationen der Seele sein. Die von gegenständlichen Bezügen unabhängigen Kompositionen, vom Künstler zunächst als Endpunkt malerischer Auseinandersetzung empfunden, erwiesen sich bald als neuer Anfang, ein Vorstoß auf dem Weg der emotionellen Bilderfindung.
In den Serien der in Analogie zur Musik so genannten Impressionen, Improvisationen und Kompositionen werden alle figurativen Elemente wie von einer unwiderstehlichen Flut hinweggeschwemmt, die aus dem befreiten Unterbewußtsein hervordrängt. Kandinsky weitet den Bildraum durch irrationale gegenstandsfreie Farben ins Unendliche aus, stößt in abstrakte Tiefen vor und kehrt dann sofort wieder in die vorderste Bildebene zurück. Der Kriegsausbruch hatte ihn 1914 zur Rückkehr nach Rußland gezwungen. Jetzt wird die Bildfläche durch ein völlig
raumloses Agieren der einzelnen abstrakten Elemente bestimmt. Unter dem Eindruck des russischen Suprematismus und Konstruktivismus dominieren geometrische Formen, der Kreis, die Linie, der Bogen, doch behält Kandinsky Unregelmäßigkeiten bei. 1922 an das Bauhaus berufen, wird er dann seine Kunst vor einem Schülerkreis als Lehre ausbauen.
Wenn man die Bilder dieser Ausstellung betrachtet, wird einem so richtig klar, wie aufregend die Wiedergeburt der Kunst damals erschienen sein muß.

Wassily Kandinsky: Der Klang der Farbe 1900-1921, Von-der-Heydt-Museum Wuppertal, Turmhof 8, dienstags bis sonntags 11 bis 18 Uhr, donnerstags 11 bis 20 Uhr, bis 19. September. Katalog 29 Euro.