Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 2. August 2004, Heft 16

Das Lachen der Möwe

von Kai Agthe

Keine Frage, Anton Tschechow wird wegen seines dramatischen Spätwerks geliebt: Die Möwe, Die drei Schwestern und Der Kirschgarten sind Bühnenklassiker. Im Falle dieses Dichters aber von einem »Spätwerk« zu sprechen, ist freilich ein Euphemismus, da Tschechow im Alter von nur 44 Jahren an Lungentuberkulose starb. Der Tod ereilte ihn vor einhundert Jahren im badischen Kurort Badenweiler, zu dessen prominentesten Bewohnern später Autoren wie René Schickele und Annette Kolb zählten. Aus Anlaß des 100. Todestages, der eine stattliche Zahl von Würdigungen hervorbrachte, legte auch der Kölner Autor Frank Rainer Scheck in der Reihe dtv-portrait eine als Einführung in das kurze Leben und reiche Werk zu empfehlende Biographie des russischen Schriftstellers vor.
Tschechow stammte aus einer Familie, in der der Vater mit patriarchalischer Strenge herrschte. Der Leibeigene, der Pavel Tschechow gewesen war, hat Frau und Kinder nicht anders denn als Sklaven behandelt. Der Vater war ein Tyrann, tief religiös zwar, aber nicht in der Lage, seine Familie finanziell über Wasser zu halten. Deshalb fühlte sich Anton zeitlebens für Mutter, Schwester und die Brüder verantwortlich. Schon der Moskauer Medizinstudent versuchte parallel zu seiner Ausbildung durch das Schreiben zum Unterhalt der Seinen beizutragen. Am Anfang seines literarischen Schaffens standen deshalb seichte Kurzgeschichten, die er in damals beliebten Unterhaltungszeitschriften für ein Hungerhonorar veröffentlichte.
Obwohl schon der 13jährige in Taganrog, seiner südrussischen Geburtsstadt, die Liebe zum Theater entdeckte, fand der Schriftsteller, der sich vor allem durch Erzählungen einen Namen machte (aber sich so recht nicht für den Roman erwärmen konnte), erst spät zum Drama. Und noch im Jahre 1896, nachdem er den Schlußpunkt unter Die Möwe gesetzt hatte, äußerte sich Tschechow skeptisch über sein Talent als Bühnenautor: »Wenn ich mein neugeborenes Stück lese, gelange ich einmal mehr zu der Überzeugung, daß ich absolut kein Dramatiker bin.« Da lacht ja die Möwe! Denn als ein großer Vertreter genau dieses Genres wird er heute weltweit verehrt. Das Theaterpublikum der Jahrhundertwende hatte zunächst erhebliche Schwierigkeiten mit der neuen und so unerhört innovativen Poetik Tschechows. Was da von ihm zum Beispiel Komödie betitelt wurde, entsprach keineswegs dem damals landläufigen Verständnis vom Lustspiel. Wie kann, so fragte man seinerzeit, ein Drama wie Die Möwe Komödie heißen, wenn sich am Ende eine der Hauptfiguren erschießt?
Der Dramatiker jedoch hatte ein ganz eigenes Verständnis vom Komischen, das Frank Rainer Scheck mittels Zitaten von anderen Tschechow-Interpreten erläutern läßt. Das grundlegend (und um 1900 gewöhnungs-bedürftig) Neue dieser Dramatik ist deren psychologische Grundierung: »Ohne äußerliche Effekte, allein durch die innere Spannung der Charaktere und ihrer Beziehungen«, so Frank Rainer Scheck, will der Dichter die Zuschauer in den Bann ziehen. Und genau das gelingt Tschechow, den eine Schweizer Zeitung jüngst den »nüchternste(n) und bescheidenste(n) der großen russischen Autoren« nannte, nunmehr seit einem Jahrhundert. Eine reife Leistung für jemanden, der selbst der festen Überzeugung war, spätestens sieben Jahre nach seinem Tod würde man ihn und sein Werk vergessen haben – so zumindest hat es der Freund und Weggefährte Ivan Bunin in seinen Erinnerungen an Tschechow mitgeteilt.

Frank Rainer Scheck: Anton Cechov. dtv-portrait. Deutscher Taschenbuch Verlag München 2004, 192 Seiten, 10,00 Euro.