Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 19. Juli 2004, Heft 15

Ultralinks?

von Mario Keßler

Jörn Schütrumpfs nuancierte Rezension meines Buches Arthur Rosenberg. Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen (1889-1943) im Blättchen, Nr. 10/2004 ist schon deshalb zu begrüßen, weil damit an einen Politiker und Historiker der Weimarer Republik erinnert wird, der im Osten Deutschlands noch immer zu wenig bekannt ist. Im Westen wurden Rosenbergs Bücher zur Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, zur Geschichte des Bolschewismus sowie über Demokratie und Sozialismus für die kritische Generation der 1960er Jahre zum wichtigen geistigen Marschgepäck. Wann und warum der Zug der kommunistischen Bewegung entgleiste, was auch in den marxistischen Grundlagen nicht stimme – diese Debatten wurden seitdem nicht mehr geführt, ohne daß bald der Name von Arthur Rosenberg fiel. Politische Denker von der Statur eines Wolfgang Abendroth, eines Ossip Flechtheim und eines Noam Chomsky erhielten manche Anstöße für die Beschäftigung mit diesen Fragen durch die Werke Arthur Rosenbergs. Seine Schüler Theodor Bergmann, Georg Eckert (im Westen) und Walter Markov (im Osten) verdanken dem Unterricht bei Rosenberg Anregungen, die in ihren eigenen Arbeiten unschwer auszumachen sind. Markov war wohl der erste, der in der DDR auf die große Bedeutung dieses als »Renegaten« verfemten marxistischen Historikers hinwies.
Unweigerlich tauchen politische Schlagworte auf, wendet man sich jenen zu, die in der Weimarer Republik in der KPD doch unvermeidlicherweise auf einem ihrer Flügel fochten. Rosenberg, ursprünglich deutscher Nationalist, hatte nach dem Ersten Weltkrieg mit seinem Herkunftsmilieu unüberhörbar gebrochen. Über die USPD gelangte er 1920 zur KPD, in der er bis zum Parteiaustritt 1927 wichtige Funktionen einnahm. So vertrat er die Kommunisten im Reichstag und gehörte der Parteizentrale sowie dem Exekutivkomitee der Komintern an.
Wer den Lebens- und Denkweg Arthur Rosenbergs forschend nachzeichnet, begibt sich in das Dickicht der innerkommunistischen Fraktionskämpfe jener Zeit. Die Revolution schien unmittelbar bevorzustehen; sozialdemokratische Parteiführer könnten sie nur zeitweise abbremsen, würden aber vom Gang der Geschichte ebenso hinweggefegt werden wie die feudalen und bürgerlichen Herrscherklassen. Diese Zuversicht beherrschte alle, die sich nach dem Ersten Weltkrieg daranmachten, kommunistische Parteien zu gründen. Der Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg fiel 1920/21 mit dem Aufstieg der KPD zur Massenpartei zusammen. Hatten da Überlegungen, die auf eine Einheitsfront mit der SPD und den gemäßigten Gewerkschaften setzten, überhaupt einen Platz? Arthur Rosenberg gehörte innerhalb der KPD zu denen, die am entschiedensten die »Offensivtheorie« propagierten, die Sozialdemokraten politisch abschrieben und auch nach dem Abebben der revolutionären Welle Ende 1923 einen neuen Aufschwung vor der Tür sahen. Man solle dem vermoderten parlamentarischen System den Fußtritt versetzen. »Diese fallende Republik werden wir stoßen, daß sie das Schicksal erhält, das sie verdient«, rief Rosenberg 1924 im Reichstag aus. Als sich der Wechsel im Zeitklima mit einem Stimmenrückgang für die in revolutionären Planspielen befangene KPD bei den Wahlen äußerte, meinte Rosenberg, es sei unwichtig, ob die Partei eine oder zwei Millionen Stimmen bei dem »parlamentarischen Affentheater« verliere. Wichtig sei allein die revolutionäre Kampfkraft. Einen »kompromißlosen Demokratismus«, den Jörn Schütrumpf Rosenberg bescheinigt, wird man dies nicht nennen können – jedenfalls nicht für diese Zeit.
Innerhalb der KPD war Rosenberg im Frühjahr 1924 in Schlüsselstellungen gelangt. Sein politischer Aufstieg erfolgte zusammen mit dem von Ruth Fischer, der Parteivorsitzenden, Arkadij Maslow, Karl Korsch und Werner Scholem. Die abgesetzte Führung um Heinrich Brandler und August Thalheimer, der das unvermeidliche Scheitern der Revolutionsversuche zwischen 1921 und 1923 angelastet wurde, galten nun als die »Rechte« innerhalb der KPD; eine Bezeichnung, die beinahe so schimpflich war wie das Wort »Sozialdemokrat«. Doch auch die neue Parteiführung blieb nicht lange einig: Fischer und Maslow suchten noch Ende 1924/Anfang 1925 nach Wegen, um die Kluft zur SPD wenigstens etwas zu verringern.
Eine Gelegenheit, die Beziehungen zu den Sozialdemokraten zu überprüfen, ergab sich bei der Wahl eines neuen Reichspräsidenten nach dem Tod Friedrich Eberts. Für den entscheidenden Wahlgang am 26. April 1925 stellte die Rechte den Weltkriegsverlierer Paul von Hindenburg auf. Die SPD und ihre bürgerlichen Partner, die Deutsche Demokratische Partei, die Deutsche Volkspartei und das Zentrum, einigten sich auf den Zentrumspolitiker Wilhelm Marx. Für ihn hatte die SPD ihren Kandidaten vom ersten Wahlgang, Otto Braun, zurückgezogen.
Der Komintern-Vorsitzende Sinowjew empfahl die Unterstützung von Marx, um den eingefleischten Monarchisten Hindenburg zu verhindern. Ruth Fischer stimmte der Empfehlung unter Vorbehalt zu, geriet aber innerhalb der KPD-Führung in die Minderheit. Zu denen, die am heftigsten die Unterstützung eines bürgerlichen Kandidaten, wer dieser auch sei, ablehnten, gehörten Arthur Rosenberg und Werner Scholem. Beide wandten sich gegen die »Einheitsfronttaktik mit dem schwarz-rot-goldenen Block«, der »überhaupt kein Faktor der jetzigen deutschen Politik« sei. Hindenburg wurde gewählt, und kurz darauf griff Ruth Fischer ihre früheren Bündnispartner, die sich selbst als die innerparteiliche Linke bezeichneten, als »Ultralinke« an. Gewiß war der Terminus, darin hat Jörn Schütrumpf Recht, damals Ausdruck der »ideologischen Aufstellung der KPD«.
Aber Rosenbergs Haltung entsprach nicht den politischen Erfordernissen. Er sah nicht den Unterschied zwischen einem rechten Zentrumsmann, der jedoch für die Republik eintrat, und der Symbolfigur des preußischen Militarismus, dessen Sieg für die republikfeindliche Rechte eine große Ermutigung bedeutete. Im Exil sollte Rosenberg den Unterschied zwischen der kritikwürdigen deutschen Demokratie und einer Diktatur, zu deren Wegbereitern Hindenburg gehörte, bitter erfahren. Doch auch in seiner Geschichte der deutschen Republik, 1935 in Karlsbad erschienen, meinte Rosenberg, die Kommunisten hätten »damals begreiflicherweise Hindenburg für kein größeres Übel als Marx« gehalten. Dies schrieb er immerhin zwei Jahre, nachdem Hindenburg Hitler zum Kanzler ernannt hatte, und lange, nachdem er selbst den Wert demokratischer Einrichtungen erkannt hatte. Rosenbergs letztes Buch Demokratie und Sozialismus wurde 1938 zu einer eindrücklichen Mahnung an die Linke, diesen Wert nicht zu vernachlässigen.
Wenn der Begriff »ultralinks« nicht in diffamierender Weise benutzt wird, wenn er zur Bezeichnung einer Position dient, die überzogene Revolutionserwartungen zur Grundlage politischen Handelns macht, ist er wohl für Rosenbergs Haltung der Jahre 1924/25 nicht fehl am Platz. Gleichwohl sollte die Intervention des verantwortlichen Blättchen-Redakteurs das Nachdenken befördern, inwieweit die politische Terminologie der Komintern-Ära heute noch für den Historiker hilfreich ist.