Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 19. Juli 2004, Heft 15

Ernst Ludwig Kirchner

von Klaus Hammer

Ernst Ludwig Kirchner, der sensibelste und zugleich eigenwilligste der Brücke-Künstler, hat sich primär als Zeichner verstanden: 165 Skizzenbücher haben sich allein im Kirchner-Nachlaß erhalten, und in privaten wie öffentlichen Sammlungen sollen sich etwa sechstausend Zeichnungen, Aquarelle und Pastelle befinden. Sie dienten nicht nur als Studien und Skizzen für Gemälde, Druckgrafik wie auch Plastik, sondern besitzen durchaus autonomen Bildcharakter und gehören zum besten, was im 20. Jahrhundert hervorgebracht wurde.
Das Berliner Kupferstichkabinett präsentiert nach gründlicher wissenschaftlicher Aufarbeitung erstmals seinen Bestand an Zeichnungen, Grafik, bemalten Postkarten und illustrierten Büchern Kirchners. Seit 1919 war hier durch Ankauf, Stiftung von Sammlern und Galerien sowie durch Schenkung des Künstlers eine repräsentative Sammlung zusammengetragen worden, die 1937 der Aktion »Entartete Kunst« zum Opfer fiel. Willy Kurth, damals für die Kunst der Moderne im Kupferstichkabinett zuständig, hatte den Mut, nicht nur nach 1933 die Kirchner-Bestände zu vermehren, sondern auch bereits beschlagnahmte Kirchner-Arbeiten gegen weniger bedeutende Werke auszutauschen.
Von dem nach 1945 in die Sowjetunion verbrachten Museumsgut sind nicht alle Kirchner-Blätter an das Ost-Kabinett zurückgegeben worden. Mit der Wiedervereinigung der beiden Kabinette 1990 kam aber der verbliebene und seither durch Neuerwerbungen ergänzte Kirchner-Bestand wieder zusammen, der nunmehr erstmals in einer visuell wunderbar aufbereiteten Personalausstellung der Öffentlichkeit vorgeführt werden kann.
Den Mittelpunkt bildet ein 1986 vom westlichen Kabinett erworbenes Skizzenalbum des Künstlers mit mehr als zweihundert kleinformatigen Zeichnungen und Aquarellen aus der Dresdner und Berliner Zeit. Wie Recherchen ergeben haben, handelt es sich um ein – vermutlich 1923 – eigenhändig vom Künstler zusammengestelltes Konvolut. Die Werke zeigen Tanzszenen und Tänzer, dazu eine große Zahl nahezu abstrakter Bewegungsstudien, Zirkus und Varieté, Theater und Konzertcafé, Akte im Atelier und in freier Natur sowie intime Paare, exotische Menschen der Völkerschauen, Stadtlandschaften und Vorortstraßen, Reiseimpressionen. Unter den zahlreichen Bildnissen findet man immer wieder Dodo, Kirchners attraktive Favoritin der Dresdner Jahre, meist an ihren aufwendigen Hüten erkennbar, aber auch die jungen Mädchen Fränzi und Marzella und die Brücke-Kollegen Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff. Die stilistische Vielfalt der Zeichnungen ist verblüffend. Sie reicht von der für die Dresdner Jahre typischen, kompakten Fülle der Strichlagen, dem zumeist mit Tuschfeder erzeugten neoimpressionistischen Duktus mit starken Hell-Dunkel-Wirkungen über eine stärkere Linearität zunächst mit weichen und dann mit harten, kantigen Formen bis zur knappen, straffen Sprache und zu den schon Schraffuren enthaltenen Konturen der Berliner Zeit.
1917 kam Kirchner krank und zerrüttet nach Davos. Der Zeichenstil der folgenden Zeit ist von höchster Nervosität und Bewegtheit geprägt. Auf das Porträt eines Almbewohners (Sennkopf, 1917, Holzschnitt) kann man die Worte Will Grohmanns, des Verfassers der ersten Kirchner-Monographie (1925) beziehen, daß die Physiognomie des Porträtierten eine »geradezu landschaftliche Verwitterung« erreicht habe – voll expressiver Verinnerlichung. Die ergreifendste Arbeit dieser Holzschnitt-Reihe ist aber das Selbstporträt Kopf des Kranken (1917/18), das mit kurzen, dichten, feinnervigen Schnitten einen »Blick unter die Haut«, ins Innerste der Psyche suggeriert. Im freien Spiel der Farben und Formen dramatisiert Kirchner die Bergwelt als rhythmisch schwingende Alpenkulisse.
Kirchner nahm auch das Illustrieren literarischer Stoffe wieder auf, das er schon eindrucksvoll mit Holzschnitten zu Werken von Alfred Döblin und zum Peter Schlemihl von Adelbert von Chamisso vorgeführt hatte und das er jetzt mit Holzschnitten zur alttestamentarischen Gestalt Absalom (1918) und zu Georg Heyms Lyrikband Umbra vitae (1924) fortsetzte. In Absalom, dem Sohn König Davids, versinnbildlichte er das Märtyrertum eines jungen Aufbegehrers, während er in seinen Heym-Blättern eine Bild- und Textsynthese in höchster Vollkommenheit anstrebte.

Kupferstichkabinett/Staatliche Museen zu Berlin, Sonderausstellungshalle, Kulturforum Potsdamer Platz, dienstags bis freitags 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 22 Uhr, samstags/sonntags 11 bis 18 Uhr, bis 29. August; Begleit- und Bestandskatalog (Prestel Verlag, München) 35 Euro.