von Erhard Crome
Jubiläum in Adlershof. 250 Jahre. Soll man eine Hommage an den Ort seiner Kindheit schreiben, auch wenn er bei heutigem Hinsehen nichts Besonderes zu sein scheint? Der Ort der Kindheit bleibt immer ein eigener, geheimnisvoller Ort, den man nur selbst kennt. Das ist schwer zu vermitteln. Da sind die Geschichten aus der Kindheit, die Gesichter der Erinnerung, die Gerüche, etwa von Kartoffeln mit Rotkohl im evangelischen Kindergarten, oder vom Kaffee, der noch ziehen mußte, bei Tante Sophie, der Freundin meiner Oma, wenn wir zu ihr am Sonntag zum Kaffee kamen.
Mein Urgroßvater war Anfang des 20. Jahrhunderts in den damals rasch wachsenden Ort gezogen. Er, gelernter Schmied aus Gollnow bei Stettin, hatte die Schmiede nicht übernehmen können, die die Familie seit Generationen betrieben hatte, weil er der zweite Sohn war. So arbeitete er in Wildau im Lokomotivbau, seine Söhne mußten nach Berlin in die Lehre; Adlershof war der günstig gelegene Wohnort, der Kompromißort – alle mußten fahren. Aber es war auch ein »roter« Ort, mit einer starken Sozialdemokratie, und er war Sozialdemokrat und im Metallarbeiterverband organisiert. Sein Sohn, mein Großvater, war vor dem Ersten Weltkrieg nach Rußland gegangen, hatte dort günstig Geschäfte gemacht, und wurde am 1. August 1914 von der Internierung überrascht. Der Erste Weltkrieg brachte die ersten Enteignungen (nicht erst der »Bolschewismus«). Im Rapallo-Vertrag hatten Sowjetrußland und Deutschland den gegenseitigen Verzicht auf eine Entschädigung vereinbart; sie erfolgte dann durch die Weimarer Republik, in nominell der entsprechenden Höhe – aber es war bereits Inflationsgeld, das mein Großvater erhielt. 1920 waren sie wieder in Adlershof, meine Großmutter und er hatten in Rußland geheiratet, als der Bürgerkrieg tobte. Während der Trauung
hörte man den Kanonendonner in der Ferne, zwischen »Roten« und »Weißen«. Auch dies eine Geschichte, der ich als kleiner Junge mit angehaltenem Atem lauschte. Mein Urgroßvater war während des Krieges zur USPD gegangen, weil er gegen den Krieg war. Zur KPD nach dem Kriege mochte er dann nicht, zur SPD zurück auch nicht. Also war er parteilos. Aber er wählte weiter rot, während mein Großvater deutschnational wählte – er hatte ja in Rußland gesehen, wie es ist, wenn die Roten nach der Macht greifen. 1945 bereute er seine Entscheidung fünfundzwanzig Jahre zuvor, aber das war schon wieder eine andere Geschichte.
Kindheit, das ist auch das Haus, in dem man aufgewachsen ist, das sind die Namen an der Tür. In die Wohnung unten zog eines Tages ein Mann vom Film. Er hieß Kohlhaase. Im Unterschied zu uns, wo mein Vater in traditioneller Weise ein Messingschild auf das Klingelbrett geschraubt hatte, war bei ihm nur ein Zettel mit zwei Reißzwecken angebracht, auf dem sein Name stand. Nach einer durchfeierten Nacht hatte jemand: »NPT« daneben geschrieben. Was das ist, wollte ich wissen. »Das heißt Nationalpreisträger«, hatte meine Mutter gesagt. Aber was das wirklich bedeutet, habe ich erst später begriffen, als ich seine Filme gesehen hatte, Ich war neunzehn oder Solo Sunny, beide zusammen mit Konrad Wolf. Aber da wohnte Wolfgang Kohlhaase längst woanders. 1977 erschien sein Erzählband Silvester mit Balzac. Bereits damals bedauerten viele, daß er angesichts der vielen herausragenden Filme so wenig Prosa geschrieben hat. Aber auch mit diesem einen Band war er bereits einer der wichtigsten Schriftsteller deutscher Sprache. Kaum jemand vermag so lakonisch und zugleich so bildhaft zu schreiben. Die erste Erzählung, Inge, April und Mai, spielt in Adlershof, am Kriegsende. Ich habe sie gerade wieder hervorgeholt und gelesen, auch weil Adlershof gerade 250 geworden ist.
Mein Sohn wuchs in der gleichen Wohnung auf wie ich. Es hatte sich so ergeben, daß meine Mutter ausgezogen war, und meine Frau und ich mit den Kindern die Wohnung behalten konnten. Es war die gleiche Straße, aber eine andere Zeit. Er wurde inzwischen Musiker und komponiert. Seine Eindrücke hat er in eine Sinfonia gefaßt, die er Adlershofiana genannt hat. Sie wurde in der Feier zum Ortsjubiläum am 24. April aufgeführt. Ihm war es gelungen, schrieb über die Veranstaltung jemand hinterher, »mit seiner Musik das Publikum aufzurütteln und gleichzeitig in gute Stimmung zu versetzen«.
Adlershof, das sei etwas Besonderes heute, sagten in der Veranstaltung Harald Wolf als Berliner Bürgermeister und verschiedene Unternehmer, die heute in Adlershof tätig sind. Während überall sonst Arbeitsplätze beseitigt werden, nimmt ihre Zahl hier zu, weil Wissenschaft und Industrie in Adlershof heute eine neue Symbiose eingehen, neben der Naturwissenschaft der Humboldt-Universität hier viele Hochtechnologie-Forscher und -Betriebe ihren Platz haben und Berlin-Chemie floriert. Allerdings haben der Campus auf der einen Seite des Bahndammes und der alte Ort auf der anderen noch zu wenig miteinander zu tun. Höhepunkt der Eröffnungsveranstaltung war der Vortrag von Rudi Hinte. Alle nennen ihn den »Ortschronisten«. Wenn er über Geschichte redet, wird sie dem Zuhörer in der Tat lebendig. Sein zweiter Band der Ortsgeschichte, Vom Colonistendorf Suzsen Grundt zum Zentrum für Wissenschaft, Wirtschaft und Medien, erschien gerade rechtzeitig zu Beginn des Jahres.
Die Ausstellung zur Geschichte Adlershofs in der Alten Schule, die heute Kulturzentrum ist, kann auch im Juni noch besichtigt werden. Der Zugang zu der Aula, die ein Gutteil der Ausstellung birgt, geht durch einen ehemaligen Klassenraum, in dem auch ich oftmals saß. Das aber ist wieder eine Geschichte, die nur ich kenne und meine damaligen Mitschüler. Als ich bei der Eröffnung meine alte Freundin Moni traf, stellten wir fest, daß wir zwar in der gleichen Klasse gewesen waren, aber unterschiedliche Dinge erinnerten. Mein Adlershof bleibt mir, auch wenn ich gerade ganz woanders bin.
Rudi Hinte: Adlershof. Teil 1 und Teil 2, zu beziehen über das Heimatmuseum Treptow. Ausstellung bis 15. Juni 2004, »Alte Schule«, Dörpfeldstraße
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