Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 26. April 2004, Heft 9

»Solches Affe!«

von Kai Agthe

Die Fraktionen sind im Falle dieses Autors klar getrennt: Entweder man hat noch nie etwas von ihm gehört, oder man ist ein begeisterter Leser seiner Geschichten und bestrebt, jede Zeile von ihm ausfindig zu machen. Zwischen diesen Extremen pendelt das literarische Nachwirken von Victor Auburtin (1870-1928). Mit Blick auf seinen Berufsstand im allgemeinen und seinen Freund Peter Altenberg im speziellen meinte der Autor seinerzeit: »Wir Feuilletonisten überleben uns nicht.«
Das trifft für Auburtin zu – und auch nicht. Heinz Knobloch etwa hatte 1970 in der DDR eine Auswahl von Geschichten des Meisterfeuilletonisten herausgegeben. Und vor genau zehn Jahren begann der in Berlin-Charlottenburg beheimatete Verlag Das Arsenal das wagemutige Unterfangen einer Auburtin-Werkausgabe in Einzelbänden. (Müßig, darauf hinzuweisen, daß es wieder einmal ein kleiner Verlag war, der mehr riskierte als etablierte Vertreter der Branche.) Aus diesen Büchern sind auch die Texte entnommen, die der kleine und sehr ambitionierte Glaux-Verlag in Jena soeben als Hörbuch veröffentlichte. Unter der (bereits einen künftigen Reihentitel ankündigenden?) Überschrift Stiebert liest werden zwölf Miniaturen dieses Karl Kraus verhaßten Autors vorgestellt, das heißt vorgelesen. Die Idee zu dieser CD, die Auswahl der Texte und nicht zuletzt der Vortrag selbst stammen von Martin Stiebert, einem nicht nur in Thüringen beliebten Rezitator, der seine Vorliebe für Auburtin dank des Glaux-Verlages für die Buchhörer reproduzieren konnte.
Feuilletonisten arbeiten für den Tag und überleben, wie Auburtin feststellte, aus genau diesem Grund nicht. Die Philologen hingegen wirken stets »sub specie aeternitatis«. Dem promovierten Germanisten Auburtin freilich war das Zeitungsgeschäft lieber als der in Richtung Ewigkeit schielende Blick der Klassikerverweser, was im Stück Goethephilologen nachzuhören ist. Weil Goethe keine Zeit (die Begutachtung eines Fossils forderte seine Aufmerksamkeit) und Eckermann keine Lust hatte (er schrieb einen Liebesbrief ins Reine), blieben die von Cotta übersandten Fahnen zu einem Band der Ausgabe letzter Hand des Olympiers unkorrigiert. Was zur Folge hatte, daß der Öffentlichkeit in einem lyrischen Text ein Tier präsentiert wurde, welches »das Affe« heißt. Der Bierernst, mit dem Martin Stiebert dieses Stück vorträgt, entspricht durchaus dem heißen Bemühen der titelgebenden Interpreten, diesem Druckfehler die höheren Weihen des Stimmigen zu geben. Demnach, so schwärmt die worteklaubende Gilde, sei es dem Weimarer gelungen, die ganze »Affenheit der Welt« auf den kürzesten Nenner zu bringen. Auburtins Finale: Er läßt den berühmten Germanisten Erich Schmidt einem Stoffel, dem es egal ist, wann Goethe die Ballade vom Erlkönig geschrieben hat, nachrufen: »Solches Affe!«
Ähnlich den Historikern, so sind auch Feuilletonisten nicht selten rückwärtsgewandte Propheten. Mit dem Unterschied jedoch, daß sie sich vergangenen Zeiten so nähern wie ihrer Gegenwart: mit einer gehörigen Portion gewitzter Unverfrorenheit. Auburtin hingegen versuchte sich in den zwanziger Jahren auch als Visionär. Schwarz war, was er als Zukunft mit seinem geistigen Auge sah. Im Interview mit Ethuriel wird dem namenlosen Ich-Erzähler durch den Engel Ethuriel ein Blick in ein Geschichtsbuch gewährt, das im Peking des Jahres 32897 geschrieben werden wird. Europa ist dann nur noch eine Provinz des früheren Reichs der Mitte. Wie die Gelehrten heute den Pyramiden Ägyptens ihre Geheimnisse zu entlocken versuchen, so werden die chinesischen Archäologen dereinst bestrebt sein, die europäische Kultur des beginnenden 20. Jahrhunderts zu rekonstruieren. So werden die Forscher glauben, daß Gustav Müller aus Leipzig der »edelste Dichter« dieser als »leer und ereignislos« bewerteten Epoche gewesen sei. Zu der Erkenntnis wird man im Zuge der Ausgrabung Leipzigs gelangen, wo sich in den Resten eines Fleischerladens zwei Epen Müllers und als einziger biographischer Hinweis ein auf den Postassistenten ausgestellter Pfändungsbefehl finden werden. Letzterer konnte nicht ausgeführt werden, da Müller außer einem »einbeinigen Wellensittich« nichts Pfändungswürdiges besaß. Und die »Streitigkeit zwischen den Germans und den Frenchmen«, die man einstmals als (Ersten) Weltkrieg bezeichnete und in deren Verlauf auch Gustav Müller ums Leben kam, wird aus der Perspektive der chinesischen Historiker des Jahres 32897 nur noch als lokales Scharmützel, als »Grenzstreitigkeit«, gedeutet werden.
Martin Stiebert, der seiner 47minütigen Lesung einen der Leichtigkeit Victor Auburtins entsprechenden Essay zum Leben des Autors voranstellt, hat diesem nach Alfred Polgar vielleicht markantesten Feuilletonisten der Weimarer Republik mit seiner Auswahl wieder eine Stimme verliehen.

Victor Auburtin: Lob der Langsamkeit. Feuilletons & Geschichten. Ausgewählt und gelesen von Martin Stiebert, Glaux-Verlag Jena 2003, 1 CD, 13 Euro.