Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 26. April 2004, Heft 9

Eine »andere« Bibliothek der Weltliteratur

von Mathias Iven

Echte Bildung ist nicht Bildung zu irgendeinem Zwecke, sondern sie hat, wie jedes Streben nach dem Vollkommenen, ihren Sinn in sich selbst.« Mit diesem Satz beginnt Hermann Hesse seine Überlegungen zu einer Bibliothek der Weltliteratur. Kann es die aber in einem privaten, vielleicht auf wenige Neubauquadratmeter beschränkten Haushalt überhaupt geben? Und wer entscheidet eigentlich, was wertvoll genug wäre, aufgenommen zu werden? Nichts einfacher als das. Literaturwissenschaftler, Kritiker oder andere sich berufen Fühlende sehen ihre Aufgabe darin, dem unbedarften Leser Orientierung im Bücherwald zu geben. Seit Jahrzehnten werden deshalb immer wieder neue, sogenannte Kanonlisten oder, man kann es auch einfacher ausdrücken, Lektüreempfehlungen vorgelegt. Solcherart Übersichten hat man nun auch bei der Berliner Directmedia Publishing hergenommen und die darin am häufigsten genannten Werke der Weltliteratur ermittelt.
Mehr als 85000 Bildschirmseiten präsentieren das Ergebnis: die Hauptwerke von 122 Autoren (Lebenslauf und Porträt inklusive), außerdem gibt es noch eine Reihe anonymer Schriften – das bräuchte schon etwas Platz im Regal … Zum Inhalt: Der reicht von A wie Aischylos bis Z wie Zola. Die Palette umfaßt dabei die bedeutendsten Romane, Erzählungen, Dramen und Gedichte von den altindischen Veden bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – einschränkend muß hier, wie auch schon bei anderen Ausgaben der Digitalen Bibliothek angemerkt werden, daß mit Blick auf das Urheberrecht nur solche Werke Aufnahme gefunden haben, deren Autoren beziehungsweise Übersetzer vor mehr als siebzig Jahren verstorben sind.
Bei digitalen Sammlungen dieser Art stellt sich immer noch die verständliche Frage: Liest das jemand? Die Herausgeber dazu: »Es geht dabei nicht so sehr darum, sie alle zu lesen oder zu kennen, sondern bei Bedarf verfügbar zu haben. Denn diese Bibliothek ist … insbesondere dazu da, in dem einen oder anderen Zusammenhang mit Hilfe der Suchwerkzeuge erschlossen und entdeckt zu werden.« Und dieses Erschließen und Entdecken wirft auch für den ungeübteren Windows-Nutzer kaum Probleme auf, im Gegenteil: Selbst die Suche kann schon – wie bei einer »lebendigen« Bibliothek – für den einen oder anderen Leser zu einem literarischen Erlebnis werden.
Wir haben begonnen mit Hesse, wir wollen mit ihm schließen. Das Ziel der Bildung, schrieb er 1929, »ist nicht Steigerung einzelner Fähigkeiten und Leistungen, sondern sie hilft uns, unsrem Leben einen Sinn zu geben, die Vergangenheit zu deuten, der Zukunft in furchtloser Bereitschaft offenzustehen.«

Die Bibliothek der Weltliteratur (Digitale Bibliothek, Bd. 89), 49,90 Euro