Des Blättchens 6. Jahrgang (VI), Berlin, 18. August 2003, Heft 17

Déjà vu?

von Erhard Crome

Attac-Sommerakademie 2003: Ich wollte das mal erleben. Als am Samstagabend David Harvey aus New York, Elisabeth Gauthier aus Paris und Jörg Huffschmid aus Bremen zu dem Thema diskutierten: »Wer regiert die Welt?«, war die riesige Aula der Münsteraner Universität bis auf den letzten Platz gefüllt, an den Seiten standen die später Gekommenen. Harvey kritisierte vehement die imperialistische Politik der gegenwärtigen USA. Er plädierte für eine alternative Globalisierung. »Nicht wir regieren die Welt, sondern sie«, sagte er, »aber wenn sie die Welt jetzt in den ökonomischen Suizid treiben, müssen wir sie – auch in ihrem eigenen Interesse – daran hindern.« Den Übergang von einem neoliberalen zu einem demokratischen Entwicklungsmodell forderte auch Huffschmid. Wir, die Menschen im Norden, sollten bei uns anfangen, unsere eigenen Probleme im eigenen Land lösen und nicht in den Süden exportieren. Gauthier sprach sich für ein anderes Europa aus, das zu einem Akteur für eine andere Welt gemacht werden sollte. Am Ende der Debatte wurde resümiert, es müßte »ein Korridor zu Alternativen« geöffnet werden.
Die Sommerakademie im vergangenen Jahr erhielt ein Grußschreiben der PDS-Vorsitzenden, und die PDS hatte einen Stand dort. In diesem Jahr fand weder das eine noch das andere statt. Immerhin gab es einige Leute, denen das auffiel. Der jetzige PDS-Vorsitzende hatte sicher Wichtigeres zu tun: den Großmedien seine Biographie neu zu erklären, im Osten rumzufahren und die »Basis« dort anzuschauen … Was schert uns der Westen, was sollen die sozialen Bewegungen, wo wir doch Fraktionen haben, zumindest (noch) im Osten?
Oder hatte nur einer im Vorstand den Termin verpennt? Oder lag es am genius loci – Münster in Westfalen –, den man meiden wollte? Wie auch immer, wieder wurde eine Gelegenheit zum Dialog, vor allem mit jungen Leuten im Westen, versäumt.
Das Programm der diesjährigen Sommerakademie hatte es in sich: vorbereitet waren 52 Vormittagsseminare, die vom 2. bis 5. August stattfanden. Im über hundertseitigen Programmheft war darauf verwiesen, daß die Teilnahme dort nur Sinn habe, wenn man alle vier Tage anwesend sei – also je zwölf Stunden intensive theoretische Arbeit. Anders bei den vielen Nachmittags- und Abendveranstaltungen, die in der Regel als Einzelveranstaltungen konzipiert waren. In einem der zahlreichen Papiere, das an einem der Stände verteilt wurde, heißt es zum Beruf Student unter der Rubrik Politikwissenschaft, sie mache »ihre Anfänger mit etwa zwei bis fünf Methoden bekannt, das vom politischen Geschehen und seinen Urhebern Bekannte zu verrätseln. Meist wird es zuallererst ganz ohne Argument als ein nicht enden wollendes Chaos ungewichteter Einzelfakten hingestellt«, um am Ende Botschaften »von erhabener Plattheit« zu verbreiten, die auch jeder »Hausmeister« hätte erfunden haben können. Die Sommerakademie zielt darauf, dieser strukturellen Verdummung durch die Mainstream-Wissenschaft politische und fachliche Aufklärung entgegenzusetzen.
Die für Sonntagnachmittag angekündigte Veranstaltung unter der Nummer 57 trug im Titel Arbeit und Reichtum, angekündigt war eine Debatte zu »Gegenwart der Arbeit in Nord und Süd«, als Veranstalter figurierte ein Verein Gegenstandpunkt, der Referent hieß Peter Decker. Der Seminarraum war wiederum überfüllt. Vorn saß ein faltiger kleiner Mann, der sich dann mit leiser Stimme ganz entschieden für den »Kampf um die Abschaffung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, um die Befreiung der Arbeit von der Vorbedingung des Profits« aussprach. Er kündigte einen »Kontrapunkt« an zu dem, was »gestern abend«, in der Veranstaltung mit Harvey und anderen gesagt worden war, und kritisierte nicht nur »das Kapital«, sondern auch die Attac-Gremien; sie seien zu lasch, nicht entschieden genug, Attac, »der Aldi unter den globalisierungskritischen Bewegungen«. Revolutionäre Kritik also? Die Diskussion verlief seltsam spröde. Es sprang nicht wirklich ein Funke über. Decker referierte anhand seiner Zettel, scheinbar marxistisch, wirkte aber seltsam unsicher in der Verwendung der Marxschen Begrifflichkeiten, wenn er in der Diskussion frei sprach. Zwischendurch redete er vom »afrikanischen Busch«, nicht gerade in der Weise der hierzulande links üblichen Korrektheiten. War dies der Grund für die bleibende Distanz zwischen Zuhörern und Referent? Er sprach zugespitzt aus, was viele meinten, aber er tat es auf eine Weise, die verhinderte, daß er als einer der »unseren« erkannt wurde. Oder war meine Wahrnehmung falsch?
Plötzlich kamen in mir längst versunkene Bilder hoch: Im Winter 1990, bereits im Vorfeld der ersten freien Volkskammerwahl tauchten in vielen Veranstaltungen in der Noch-DDR Vertreter einer Marxistischen Gruppe mit Münchner Adresse auf und verteilten Flugblätter mit der Losung: »Wählen ist verkehrt«. Sie verbreiteten ein »politisches Magazin« sowie zwei Bücher, deren Autoren als Peter Decker und Karl Held angegeben waren, Bücher, die »Abweichende Meinungen« zur deutschen Einheit enthalten sollten. Die Abweichung bestand darin, daß neben dem »westdeutschen Kapital« und dem kommenden »Großdeutschland« auch die »MLer« der DDR vehement kritisiert wurden, weil sie »sich in den kritiklosen Opportunismus des Volkes einzuschmeicheln« versuchten. Gemeint waren die, die gerade dabei waren, die PDS zu konstituieren. Die Marxistische Gruppe schien finanziell gut ausgestattet. Und rasch, wie sie gleichsam aus dem Nichts in der Nach-Wende-DDR aufgetaucht war, verschwand sie bald wieder, mit der lancierten Mitteilung, wegen ihrer scharfen Systemkritik unterliege sie dem besonderen Verfolgungsdruck des Verfassungsschutzes, dem sich ihre Mitglieder nicht länger aussetzen wollten. In Berlin wurde damals vermutet, diese Leute seien eigentlich von dort gewesen.
War es dieser »Decker«, dem ich jetzt eben gegenüber gesessen hatte? War nun sein Auftrag, nach dem gleichen Muster Attac »von links« zu attackieren? Ich wehrte mich innerlich gegen Verfolgungswahn. Aber irgendwo hatte ich gerade gelesen, daß es zur üblichen Taktik der CIA gehört, aufkommende Kapitalismus- oder USA-kritische Bewegungen in Lateinamerika, die moderat, aber für viele Menschen attraktiv sind, dadurch zu bekämpfen, daß man lautstark extremistisch argumentierende Personen oder Gruppen einschleuste, die erst zu Spaltungen und schließlich zur Zerstörung der Bewegung beitrugen. Warum sollte derlei nicht auch in Europa versucht werden? Und weshalb sollte eigentlich ausgerechnet Attac nicht auf einer solchen Liste stehen?
Draußen schien weiter die Sommersonne, und die Attac-Sommerakademie nahm weiter ihren guten Verlauf. Erinnerungen können auch täuschen.