Des Blättchens 6. Jahrgang (VI), Berlin, 23. Juni 2003, Heft 13

Freiheit auf Sachalin

von Dietmar Schumann

Montag, 26. Mai 2003, Jushno-Sachalinsk: Die Boeing-767 der russischen Fluggesellschaft Transaero, die uns von Moskau auf die Insel Sachalin bringt, ist bis auf den letzten Platz besetzt. Vor allem Amerikaner, Briten und Japaner sind an Bord, Manager und Ingenieure der Ölkonzerne Exxon, Shell und Mitsui. Große Vorkommen an Erdöl und Erdgas im Schelf vor der Nordostküste Sachalins ziehen ausländisches Kapital an.
Die erste Bohrplattform von Shell, Molikpak ihr Name, ist bereits in Betrieb. Im letzten Jahr wurden von ihr 1,5 Millionen Tonnen Erdöl mit Tankern in die USA, nach China, Japan und Südkorea verschifft. Weitere Plattformen werden gebaut. Die große Jagd auf die Reichtümer Sachalins ist in vollem Gange, ohne russische Beteiligung. Präsident Putin gestattet zum ersten Mal, daß ausländische Firmen ohne russische Partner aktiv werden dürfen. Er hofft, daß ihm die Ölmultis auch Straßen, Krankenhäuser und Schulen bauen und das vernachlässigte Sachalin auf Vordermann bringen. Mit dem Fernost-Öl glaubt der Kremlchef, die USA und Japan geostrategisch enger an Rußland binden zu können. Ob diese Rechnung aufgeht, scheint mehr als fraglich. Denn auch auf Sachalin wird das altbekannte Motto gelten: Wer das Orchester bezahlt, der bestimmt auch, welche Musik gespielt wird.
Jushno-Sachalinsk, die Hauptstadt der Insel, macht einen niederschmetternden Eindruck. Desolate Straßen, ramponierte Häuser, Fabrikruinen. Das Elend wird überragt durch die Glaspaläste von Exxon, Shell und einer japanischen Großbank.
Mittwoch, 28. Mai 2003, Smirnych: Mitten auf der Insel, die Strafkolonie IK-2 in Smirnych. Besonders strenges Regime. Gewaltverbrecher sitzen hier ein. Zu unserer Überraschung werden wir vom russischen Justizministerium eingeladen, in Smirnych zu drehen. Von Sachalin, vom Zaren Mitte des 19. Jahrhunderts zur Sträflingsinsel bestimmt, gibt es kein Entkommen. Auch heute nicht. Hauptmann Sergej Rube, ein Rußlanddeutscher, führt uns durch das Gefängnis.
Der 38 Jahre alte Offizier ist erstaunlich offen, auch im Interview: »Dieses Gefangenenlager wurde für siebenhundert Häftlinge geplant. Doppelt so viele Insassen müssen wir unterbringen. Wir sind hoffnungslos überfüllt.« Wir sehen die riesigen Schlafsäle, die Kantine, in der Tee, Brot und Wassersuppe ausgegeben werden. Alexander Krutschnikin, 28 Jahre, Landarbeiter, »sitzt« acht Jahre »ein« wegen bewaffneten Raubes. In wenigen Monaten wird er entlassen. »Krutschnikin wird es schaffen, draußen, in der Freiheit«, meint Hauptmann Rube. »Eine Ausnahme. Die meisten sehen wir bald wieder. Unsere Gesellschaft ist krank und gewalttätig. Nur die Kinder der Reichen können sich ein Leben wie in Amerika leisten. Ins Big Business einsteigen, Geld machen, tolle Autos fahren. Die große Mehrheit der jungen Russen aber hat keine Chance auf ein Studium oder eine geregelte, gut bezahlte Arbeit. Sie können nur Überleben durch ein Mitwirken im kriminellen Milieu.«
Freitag, 30. Mai 2003, Nogliki: Eine Siedlung an der Nordostküste Sachalins. Wir sind verabredet mit Sachalin-Energy. Unter diesem Namen betreiben Mehrheitseigner Shell und der japanische Konzern Mitsui die Bohrplattform Molikpak. Einen russischen Erdölkumpel wollen wir porträtieren und zu seinem Arbeitsplatz draußen im Meer begleiten. So war es ausgemacht. Doch Valentina Kiseljowa, die Pressechefin, die uns eingeladen hat, sagt plötzlich »Njet«. Ich telefoniere mit Alan Grant, dem schottischen Manager. Es bleibt beim »Nein«. Als wir das Hotel verlassen, verfolgt uns ein Geländewagen. Im Dorf Katangli packen wir die Kamera aus. Wir wollen Ölpumpen drehen. Zwei Männer springen auf uns zu: »Kamera aus! Es ist verboten, strategische Objekte aufzunehmen.«
Der Bürgermeister des Dorfes, Sergej Prochorow, klärt uns auf: »Das sind die Jungs vom FSB, vom russischen Geheimdienst. Die sollen verhindern, daß die Wahrheit über die Umweltsünden der Ölkonzerne ans Licht kommt. Außerdem will die Obrigkeit nicht, daß im Ausland bekannt wird, wie beschissen wir hier leben. Wir sitzen auf dem Öl, und weißt du, was wir davon haben? Nichts.«
Prochorow zeigt uns die Holzhütten der Ölarbeiter. Schief, schmutzig. Wer Arbeit hat, verdient dreihundert Dollar im Monat. Über die Hälfte der Erwachsenen ist arbeitslos. Für den Aufbau einer Erdgas-Reinigungsfabrik bei Jushno-Sachalinsk aber lassen die Konzerne Arbeiter von den Philippinen nach Sachalin einfliegen. Für seine aufklärenden Worte vor unserer Kamera wird Bürgermeiser Sergej Prochorow am nächsten Tag bestraft. »Wegen Kooperation mit dem deutschen Fernsehsender ZDF«, teilt ihm ein Vertreter des Konzerns Rosneft mit, werden seinem Dorf Wasser und Strom abgestellt.
Samstag, 31. Mai 2003, Ocha: Wir fahren zum Nordkap der Insel. In Ocha wird seit 75 Jahren Öl gefördert und über eine Pipeline aufs Festland gepumpt. Die Anlagen gehören dem russischen Konzern Rosneft. Natascha Barannikowa und Dima Lissitzin, zwei Umweltschützer, bringen uns zum Fluß Ochanka. Eine ölige, übelriechende Brühe wälzt sich ins Meer. Die Ölquellen und die Leitungen von Rosneft sind leck. Etwa eine Tonne Erdöl pro Minute verunreinigt den Fluß. »Das Öl gelangt ins Meer und über die Fische in den Nahrungskette der Menschen. Die Einwohner von Ocha sind akut krebsgefährdet. Wir registrieren hier zehnmal soviel Krebserkrankungen wie im Landesdurchschnitt«, erzählt Dima Lissitzin. Wo das Öl auf Sachalin fließt, sterben der Wald und die Fische, und die Menschen werden krank.
Auch im Schelf, wo Shell nach Öl bohrt, sagt Dima, spiele der Umweltschutz keine Rolle. Nach einer Havarie im letzten Jahr seien fünftausend Tonnen tote Heringe an der Küste angeschwemmt worden. Die Sicherheitsdienste der Ölmultis und der russische Geheimdienst FSB wollen verhindern, daß diese Umweltsünden publik werden. Seit wir im Ölrevier unterwegs sind, werden wir von den »Schlapphüten« observiert. Sie verfolgen uns mit ihren Autos, wohin wir auch fahren. Sobald Heinz Kerber seine Kamera aufbaut, stellen sie sich vor das Objektiv. »Hiermit untersagen wir Ihnen Dreharbeiten. Sie haben strategisch wichtige Objekte im Visier«, ist der stereotype Satz, den sie stets vorbringen. Sogar über Nacht parkt ein Auto mit FSB-Leuten vor unserem Hotel. Die Überwachung ist perfekt. Auch vor Provokationen schrecken die Geheimdienstler nicht zurück. Die Verkehrspolizei von Ocha stoppt unsere Autos. Strenge Kontrolle. »Warum macht Ihr das?«, frage ich. »Ihre beiden Fahrer sollen betrunken sein, wurde uns vom FSB mitgeteilt.« Keinen Tropfen Alkohol hatten Sergej und Alexej getrunken.
Am Abend sitzen wir vor dem Fernseher. Übertragung aus St. Petersburg. Wladimir Putin hat Staatsoberhäupter aus aller Welt eingeladen, um mit ihnen den 300. Geburtstag seiner Heimatstadt zu feiern. Feuerwerk, Gold und große Worte. Millionen von Dollar werden ausgegeben für Protz und Prunk. Livrierte Diener mit Perücken reichen Champagner. Präsident Putin schlüpft vor Bush, Blair und Schröder in die Rolle eines aufgeklärten Regenten der Großmacht Rußland.
Zur gleichen Stunde sitzen wir am anderen Ende seines Reiches. Aus dem Fenster unserer Unterkunft blicken wir auf Industrie-Ruinen und verfallene Wohnhäuser. Betrunkene wälzen sich im Dreck. Die Menschen in Ocha sind bettelarm. Sie hausen wie auf einer gewaltigen Müllhalde. »Potjomkinsche Dörfer« in St. Petersburg, Armut und Mangel in den Provinzen. Der Widerspruch zwischen Putins Verkündigungen und der russischen Wirklichkeit ist riesengroß.
Mittwoch, 4. Juni 2003, Poronaisk: Schlechte Nachrichten. Wladislaw Kirtschanow, Chef der Jagdgesellschaft Hunter hält nicht Wort. Er wollte uns mit einem Kutter zur Insel Tjulenj bringen. Die ist zur Paarungszeit bevölkert von tausenden Seehunden und Robben. Auf die Fahrt hinaus in den Pazifik und auf die Tieraufnahmen hatten wir uns besonders gefreut. Doch Kirtschanow versetzt uns.
Um die Zeit zu nutzen, fahren wir zur Sommersiedlung einer Niwchen-Familie. Die Ureinwohner der Insel Sachalin leben vom Fischfang. An diesem Tag fangen sie wenig. »Die Fischerträge gehen von Jahr zu Jahr zurück, weil Müll und Öl unsere Gewässer verunreinigen«, berichtet Nam Yeo, das Familienoberhaupt. »Wir haben Angst vor diesen Erdölplattformen und vor einem Tankerunglück. Der Ölboom bedroht unsere Existenz.« Entschädigung für den mißratenen Tag: Großmutter Swetlana Lawgun, eine 63 Jahre alte Niwchin, hat Fischbouletten gebraten. Aus frischem Lachs, Zwiebellauch und Mehl. Köstlich.
Freitag, 6. Juni 2003, Jushno-Sachalinsk: Es ist wie so oft in Rußland: Was die Behörden verhindern, gelingt mit Hilfe einfacher, freundlicher Menschen. Alexander Murawjow, Leiter der Fischereiaufsicht von Tymowsk, nimmt uns in seinem Hubschrauber mit. Wir drehen die schneebedeckten Gipfel der Sachaliner Berge und die atemberaubend schöne Felsenküste. Wir sehen Rentiere und eine Bärenmutter mit ihrem Jungen.
Verstaubt und durchgerüttelt von den Schotterpisten kehren wir am Abend mit dem Auto nach Jushno-Sachalinsk zurück. Die Nachrichten, die uns hier erreichen, trüben unsere Laune. Unserem Fahrer Sergej, der uns zehn Tage lang quer durch Sachalin bugsierte, haben Diebe die Wohnung komplett ausgeräumt. Von den Tätern und dem Diebesgut keine Spur. In Poronaisk, wo wir noch gestern waren, soll SARS ausgebrochen sein, meldet das örtliche Fernsehen. Angeblich soll die gesamte Insel Sachalin für Ein- und Ausreisen gesperrt werden. Hoffentlich ist das eine »Ente«. Wir beschließen, Sachalin so schnell wie möglich zu verlassen. Richtung Kamtschatka, unserem nächsten Reiseziel.

Unser Autor Dietmar Schumann befindet sich zur Zeit im russischen Fernen Osten (Kamtschatka, Sachalin und Kurilen); seine Reportage »Durch Feuer und Eis« wird am 14. August 2003 im Abendprogramm des ZDF ausgestrahlt. Damit beendet Dietmar Schumann seine Arbeit in Rußland. Er wird künftig für das ZDF aus Israel berichten.