Des Blättchens 6. Jahrgang (VI), Berlin, 17. Februar 2003, Heft 4

Wohin treibt die Bundesrepublik?

von Jörn Schütrumpf

Nach dem Fall von Paris stand Churchill plötzlich ganz allein in Europa da. Hitler war mit Chamberlains Appeasement nicht zu befrieden gewesen, und so hatte Churchill für seine Pensionärstätigkeit nur Tränen, Schweiß und Blut ererbt. Die Deutschen genossen währenddessen das Herrenmenschenleben im heutigen Tschechien, ebenso in Polen, Norwegen, Dänemark – und in großen Teilen Frankreichs, in Österreich ohnehin.
Während an der Themse schon die Bomben fielen, war es an der Moskwa vorerst nur unbehaglich: Stalin hatte sich geirrt. Statt des erwarteten Abnutzungskrieges war der französische Widerstand binnen sechs Wochen zusammengebrochen. Churchill galt nun als der letzte Widerpart des Berliner Welteroberers. Geschichte geht seltsame Wege.
Nein, sicher: George W. Bush ist nicht Adolf Hitler; Hitler kam ohne Wahlbetrug an die Macht. Und Gerhard Schröder ist nicht Winston Churchill, nach dem würde selbst in der größten Not niemand rufen – eher ließe es die SPD noch mal Oskar Lafontaine machen; und Wladimir Putin ist nicht Josef Stalin, auch wenn er sich müht, historischen Vorbildern nachzueifern. Trotzdem hat der Berliner Kanzler etwas mit dem einsamen Churchill von 1940 gemeinsam: Er ist dabei, Geschichte zu schreiben. Der Mann ohne Eigenschaften und Grundsätze ist so oft umgefallen, daß er beim nächsten Mal abstürzen würde. Das hat er begriffen.
Vielleicht hat einer seiner Berater, der Historiker Heinrich August Winkler, auch etwas nachgeholfen: 1928 hatte die Sozialdemokratie eine Reichstagswahl gewonnen – mit dem Versprechen, den sogenannten Panzerkreuzer A nicht zu bauen und statt dessen die öffentliche Kinderspeisung besser auszustatten. Nach der Wahl tat sie es andersherum – und die kleinen Leute begannen, die Demokratie zu hassen. Zwei Jahre später verneunfachten sie den Nazis die Reichstagsmandate.
Schröder hat keine Angst vor Nazis; er fürchtet sich vor dem Ministerpräsidenten aus Wiesbaden. Und er denkt weiter als die SPD-Granden von 1928, die seit der Abschlachtung der Revolution von 1918 glaubten, mit Deutschlands Kleinbürgern alles machen zu können.
Innenpolitisch kann die Regierung Schröder im Moment nichts werden. Schon im vergangenen Sommer galten unter Eingeweihten fünf Millionen Arbeitslose ebenso als ausgemacht wie, daß sie vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen seien. Der neuernannte BfA-Chef Gerster erwies sich aber als unfähig, die Berechnungsgrundlagen genügend schnell umzumodeln. Der Mann wird sich nicht lange halten. Churchill wäre das übrigens nicht passiert; von ihm stammt der Satz, man solle keiner Statistik trauen, die man nicht selbst gefälscht hat, und zwar rechtzeitig.
Bis zu den Wahlen in Niedersachsen und Hessen schien mir, trotz der Rumsfeldschen Rempeleien, Schröders Rückweg in den »Schoß der Weltgemeinschaft« (Angela M.) nicht völlig ausgeschlossen – vor allem wegen der Furcht, die Amerikaner könnten deutsche Automobile seltener erwerben. Nach dem demonstrativen Empfang pazifistischer Kirchenmänner während Powells Multimediashow vor dem UN-Sicherheitsrat hat der Bruch aber strategischen Charakter angenommen. Rumsfelds Kuba-Libyen-Deutschland-Aufzählung markiert irreversibel das, zuvor schon so oft erklärte, Ende der Nachkriegszeit. Deutschland – das noch 1991 aus Angst vor dem Phantomschmerz plötzlich nicht mehr vorhandener Westbindung freudig den amerikanischen Massenmord an irakischen Frauen und Kindern nicht nur bezahlte, sondern auch noch eine Gratifikation obendrauf legte, wird ausgerechnet unter dem charakterschwachen Gerhard Schröder ein unabhängiger politischer Faktor.
Wie immer in der Politik mischen sich Anlaß und Ursache. Auch ohne die Bundestagswahlen und die jüngsten Landtagswahlen wäre über kurz oder lang eine Konfrontation herbeigeführt worden. Nicht nur die Finanzierung des ersten Irak-Krieges »rechnete sich nicht« für die Deutschen; auch die Einsätze in Kambodscha, Somalia, auf dem Balkan und in Kabul waren beziehungsweise sind »Verlustgeschäfte«. Das Murren wird immer lauter: Warum soll Deutschland die Kosten amerikanischer Expansionspolitik tragen? Erinnerungen an gallig-bös-schöne DDR-Witze werden wach: Leonid Breshnew zu einer weiteren Wunschliste der indischen Ministerpräsidentin Indira Gandhi: »Grundsätzlich einverstanden; aber wird der Genosse Honecker das alles bezahlen können?«
Während sich die DDR den – immerhin nicht auf Krieg gerichteten – »Wünschen der sowjetischen Genossen« nur selten verschließen konnte, ist die ökonomische Großmacht Deutschland (Export-, wenn auch nicht Fußballweltmeister) außenpolitisch nicht mehr auf Zwergenmaß zu halten, zumal wenn die USA – wie im Augenblick – versuchen, ihre bisherigen Bündnispartner in aller Öffentlichkeit zu tributpflichtigen Vasallen zu degradieren. Da erinnert sich selbst Chirac eines de Gaulles.
Helmut Kohl sieht sich als der Bismarck des ausgehenden 20. Jahrhunderts. 1989 hatte er sich auf das Pferd der Revolution in der DDR gesetzt und den Amerikanern zum Sieg im Kalten Krieg verholfen – gegenüber einem überforderten Gorbatschow. Alexander von Plato hat das jüngst, im wahrsten Sinne einwandfrei, dargestellt (Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle, Ch. Links Verlag Berlin 2002).
Deutschland wie einst Bismarck in die endgültige Unabhängigkeit zu führen, wäre Kohl aber nie eingefallen. Das macht zur Zeit Schröder, ein Mensch ohne Visionen. Geschichte geht seltsame Wege.
Im Moment mag der Widerstand Berlins ja ganz positiv sein, immerhin werden – trotz aller deutschen Hiwi-Leistungen – dem US-amerikanischen Staatsterrorismus wesentliche Kräfte entzogen. Doch was werden Schröders Nachfolger – diese mit Minderwertigkeitskomplexen beladenen, nie jung gewesenen christlichen Demokraten – mit der neugewonnenen Freiheit anstellen? Das kann nur schiefgehen; zumal die Linke immer noch zwischen den Trümmern ihrer einstigen Überzeugungen herumirrt, statt Ideen für ein menschenfreundliches Land herbeizustreiten.
Bei so viel Ungewißheit läßt sich der stillen Sehnsucht nach einem Churchill kaum widerstehen. Der Mann war zwar ein Widerling und natürlich ein Feind sozialer Emanzipation; aber er war berechenbar.