Des Blättchens 5. Jahrgang (V), Berlin, 2. September 2002, Heft 18

Unsere Führer

von Erhard Crome

Zu den Eigentümlichkeiten des diesjährigen Bundestagswahlkampfes gehört, daß ein beträchtlicher Teil der Medien seit Monaten vermeldet, die C-Parteien würden vorn liegen. Und das, obwohl der Stoiber doch kaum gewollt wird, zumindest nicht unter dem Wahlvolk (außerhalb Bayerns). So hat dieses ständige Drängen schon etwas Auffälliges. In der FAZ hat Frau Noelle-Neumann am 14. August mitzuteilen gewußt, daß sich die »Meinungsführer« längst für Stoiber entschieden hätten, die anderen hätten nur noch zu folgen.
Immer wieder gern berichtet Frau N.-N. über ihr Allensbacher Institut, sie hätten die besten Umfragedaten, weil sie diese »Führer« entdeckt hätten. Es seien dies jene Menschen – vorsorglich sagt sie, »in allen sozialen Schichten« –, die sich überdurchschnittlich für Politik interessierten und sich aktiver an der politischen Diskussion beteiligten. Auf diese würden die anderen Menschen hören, wenn sie nach politischer Orientierung suchten.
Auch Holger Börner, der 1972 für die SPD die »Willy-Wahl« organisierte, schreibt, daß man sich schon damals besonders an die »Meinungsbildner« gerichtet habe, um die Politik der SPD argumentativ klarzumachen und der »Angstkampagne der Opposition« entgegenzuwirken. Bemerkenswert ist der begriffliche Unterschied: »Meinungsbildner« hat etwas demokratisches, immer noch kollektives – der »Bildner« bildet sich und die anderen in einem kommunikativen Prozeß; »Meinungsführer« ist »Führer und Gefolgschaft« … aber Frau N.-N. hatte sich ja ihre ersten Sporen bei des Reichpropagandaministers Lieblingszeitschrift Das Reich verdient.
Die Medien also reden denen, die sie oder die sich für die – vielen kleinen – »Führer« halten, ein, dieses Jahr sei Stoiber angesagt. Wer nicht für Stoiber ist, ist kein Führer. Und statt der Angstkampagne von 1972 wurde dieses Jahr eine Schmutzkampagne in Gang gesetzt, allerdings nicht parteioffiziell – dem Kandidaten und seinen Kompetenzlern wurde ja Kreide-Fressen verordnet –, sondern gleichsam über verdeckte Aktionen: erst via Hunzinger gegen Scharping, was dann auch gegen Schröders vorgeblich fehlende »Führungsfähigkeit« gedreht wurde; dann via miles and more gegen etliche Bundestagsabgeordnete, die zufälligerweise fast alle aus dem linken Lager kamen.
FDP-Gerhardt tönte in der nachgereichten Talk-Show bei Frau Christiansen – hier an die Grünen gerichtet –, sie seien angetreten mit dem Anspruch, die »besseren Menschen« zu sein, und nun sei klar, sie seien auch nicht besser. Damit wären dann Kohls und Kochs Schwarze Koffer und ihr mafioses Finanzgebaren und die kumpelhaften Filzgeschäfte der Kölner Genossen beziehungsweise die kleinen Privatisierungen von Abgeordneten auf eine Stufe gestellt, und also der Kohl relativiert. Was wohl die Absicht war.
Aber vielleicht muß man ja doch noch einmal über die moralischen Ansprüche an Politik sprechen. Als in der Agonie der SED-Herrschaft der schäbige Laden in Wandlitz bereits durch die Presse gegangen war und also Krenz – er war da gerade Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender – die Schließung angeordnet hatte, kaufte das vormalige Politbüro-Mitglied Sindermann schnell noch günstig zwei Westfernseher. Winterschlußverkauf als Konsequenz der politischen Moral oder Morallosigkeit? Schnell noch was wegschleppen, wenn ich dies im Amte vermag? Dann hat sich Politik bereits auf die Ebene des Kleinbürgerlichen begeben, dorthin, wo die alten Herrschenden die »Linken« sowieso schon immer hinhaben wollten: »Wenn Ihr auch nicht besser seid, könnt Ihr uns doch gleich regieren lassen!«
Linke Politik muß so von zweierlei ausgehen: Die Medien gehören den anderen und schreiben und senden, was sie sollen – »Wer zahlt, bestellt die Musik!« –, und die Politik für die bessere Welt muß mit einer besseren Moral anfangen. Auch wenn’s schwerfällt.
Die Schwarz-Gelben wissen natürlich keine Lösung für das Arbeitslosenproblem, jenseits des Neoliberalismus schon gar nicht. Das »No-Tolerance«-Konzept der inneren Sicherheit wird nicht mehr Freiheit bringen, schon gar nicht für die »kleinen Leute«. Aber über all das soll ja gerade nicht geredet werden. Deshalb die verdeckten Aktionen und all die unappetitlichen Sachen dieses Polit-Sommers.
Dann allerdings versank auch diese Taktik der Bürgerlichen gegen alle linken Parteien im Hochwasser. Und über zwanzig Prozent der Wähler sind noch unentschlossen. Auch wenn Frau N.-N. die kleinen »Führer« auf den Weg schicken will. Aber vielleicht ist es ja tatsächlich so, daß die Bürgerlichen die Führer dieses Landes sein und schon deshalb nicht mal die Sozen ranlassen wollen.