Des Blättchens 4. Jahrgang (IV), Berlin, 29. Oktober 2001, Heft 22

Und nach dem Sieg?

von Dietmar Schumann, Hodscha Bahauddin

Auf einem staubigen Acker bei Hodscha Bahauddin sind viertausend Soldaten aufmarschiert. Tadshiken und Usbeken vor allem, Freiwillige der Nordallianz. Mit martialischen Rufen im sicheren Gelände unweit des Flusses Pjandsch, an dessen anderem Ufer Tadshikistan beginnt, machen sie sich Mut. Mut für die Schlacht gegen die Taliban. Vor den versammelten Fernsehkameras der großen Networks wollen sie Stärke demonstrieren. Eine Stärke, welche die Nordallianz nicht besitzt.
»Wir sind gerüstet für den Sturm auf Kabul. Ich vertraue auf euren Kampfgeist. Schlagen wir die Gotteskrieger in die Flucht, die Blut, Armut und Verderben über unser Land gebracht haben.« Eher grüblerisch denn kämpferisch wendet sich General Fahim, der Oberkommandierende, an seine Soldaten. Nach jedem Satz schielt Fahim auf die neben ihm stehenden Feldkommandeure, von denen es unendlich viele gibt. So viele wie Dörfer und Clans in Afghanistan. Sein Blick fragt: Seid Ihr einverstanden mit mir? So klar ist das nicht.
Bis vor kurzem war die Nordallianz ein Sammelsurium bewaffneter Haufen der Clans im afghanischen Norden. Erst unter dem Druck der Amerikaner fangen sie jetzt an, so etwas wie eine Armee zu formieren. Dreißigtausend Mann – wird geschätzt – hat die Nordallianz unter Waffen. Waffen aus den siebziger und achtziger Jahren, die die sowjetische Armee bei ihrem Abzug 1989 stehenlassen mußte. Beutegut. Fünfzig Panzer vom Typ T-55 und Grad-Raketenwerfer, eine Weiterentwicklung der Katjuscha aus dem Zweiten Weltkrieg sind alles, was man hat.
Von der durch Präsident Putin angekündigten neuen Kampftechnik aus Rußland ist noch nichts zu sehen. Zumindest hier nicht, im knöchelhohen Staub von Hodscha Bahauddin.
Ein Stabsoffizier lädt mich ein, mit ihm die Frontstellungen der Nordallianz zu besichtigen. In der vordersten Linie, am Fluß Koktscha, liegen junge Burschen aus den umliegenden Dörfern. Seit sie leben, gibt es Krieg. Ihre Antworten auf meine Frage, warum sie gegen die Taliban kämpfen, sind einfach. Der siebzehnjährige Khomil sagt, weil die ihnen das Radiohören und Fernsehen verboten hätten. Achnat, achtzehn Jahre alt, will studieren, wenn die Taliban besiegt sind. Am liebsten Landwirtschaft, in Kabul oder Taschkent.
Abdul Aziz, Feldkommandeur, befehligt den Frontabschnitt zwanzig Kilometer westlich von Hodscha Bahauddin. Der Mitvierziger, der schon gegen die sowjetischen Truppen gekämpft hat, meint: »Klar, unser Ziel ist die Erstürmung Kabuls. Doch mit diesen alten Waffen wird uns das nicht gelingen.« Die Soldaten, die ich in den Schützengräben sehe, schießen mit alten russischen MGs und zum Teil auch noch mit Karabinern aus dem Zweiten Weltkrieg.
In einer überdachten Toreinfahrt in den Ruinen des Dorfes Hodscha Chor treffe ich eine Kampfgruppe. Sie hat gerade ihr tägliches Scharmützel mit den Taliban hinter sich. Die haben sich zweihundert Meter weiter verschanzt. Zweimal am Tag, wird mir erzählt, beschieße man sich mit Panzerfäusten und Kalashnikows. Das gehe so seit sechs Wochen, und keine Seite komme voran. »Das aber«, davon ist Achmad Aziz, der hochgewachsene tadshikische Kommandant überzeugt, »wird jetzt alles anders. Wenn uns die Vereinigten Staaten mit ihrer Luftwaffe und Rußland mit Panzern helfen.«
»Ihr im Westen sprecht immer von der Feindschaft zwischen Tadshiken und Paschtunen«, erregt sich Achmad Aziz. »Ihr habt keine Ahnung. Im Kampf gegen die Taliban gibt es bei uns keine nationalen Differenzen.« Und danach? Wenn ihr gesiegt haben solltet, geht ihr euch dann wieder gegenseitig an die Gurgel? »Diesmal nicht. Und wir haben es unserem ermordeten Führer Massud versprochen, daß wir Verbündete bleiben, auch nach dem Sieg. Zweiundzwanzig Jahre Krieg sind genug.«
Der 48 Jahre alte Hauptmann steht inmitten seiner Soldaten. Ich gebe zu bedenken, ob es nicht gefährlich sei, in der Nähe der Taliban-Soldaten so laut zu reden, wie wir es tun; doch sie schütteln mit dem Kopf. »Keine Angst, dort ist jetzt Mittagsruhe. Gefährlich sind nur die Minen rechts und links des Pfads.«
In der Moschee von Hodscha Bahauddin sind Kommandeure und Stammesführer zusammengekommen, um Scheich Massud zu betrauern. Der wurde am 9. September von zwei arabischen Selbstmordattentätern umgebracht. Es sind Repräsentanten eines wahrhaft bizarren Bündnisses, die hier beieinander sind: von ehemaligen Kommunisten bis zu (ehemaligen?) Drogenbaronen. Es dürfte sich um ein Bündnis auf Zeit handeln, das nach dem Tode Massuds von General Fahin, dem einstigen Sicherheitschef, angeführt wird. »Eine schwache Figur«, flüstert mir General Mohamad Lall zu. Lall, Usbeke, war Mitglied der Kommunisten-Partei. Er befiehlt die Leibwache von Präsident Rabani. Lall, der rote General, rundlich, ohne Bart, bevorzugt ein laizistisches Afghanistan. Religion sei Privatsache.
Das sehen die meisten seiner derzeitigen Mitstreiter aber ganz anders. Mahmut Hasan, auch er nennt sich General wie so viele hier, meint: »Das Land muß nach der Entmachtung der Taliban in nationale Fürstentümer aufgeteilt werden, mit einem König an der Spitze. Die lokale Macht gehört in die Hände der Stammesoberhäupter.« Dr.Abdullah, der smarte Außenminister des Bündnisses, hat wieder andere Vorstellungen: »Ich will, daß das neue Afghanistan ein islamischer Staat wird, aber ein weltoffener. Islam und Demokratie schließen einander nicht aus.«
Der Nordallianz fehlt außer einem klaren Konzept auch eine Figur, die die Strömungen bündeln könnte. Dem einst gewählten Präsidenten Burhanedin Rabbani wird diese Rolle nicht zugetraut. In einer Villa in Faizabad hoch über dem Fluß Pjandsch versteckt er sich eher, als daß er regiert. Die Taliban haben ihn vor fünf Jahren aus dem Präsidentenpalast in Kabul vertrieben, doch er gibt sich versöhnlich, als er uns Journalisten seine Zukunftsvision vorträgt: »Wenn das Land befreit ist, sollen – mit Ausnahme der Terroristen – alle politischen Kräfte an einer Regierung beteiligt werden.« Auf die Frage, ob nach einem Sieg über die Taliban das Land in einen nächsten Bürgerkrieg stürzen werde, möchte er nicht antworten.
Sahr Guna, Lehrerin, vor den Taliban geflohen und jetzt Vorsitzende des Frauenverbandes Afghanistans: »Es darf nicht wieder passieren, was damals nach dem Abzug der sowjetischen Truppen passierte. Daß wir uns umbringen im Streit und in unserer Gier nach Macht und Geld.« Doch Sahr Guna ist eine Frau, und Frauen werden zwar bei der Nordallianz geduldet; aber zu sagen haben sie auch dort nichts.