Des Blättchens 4. Jahrgang (IV), Berlin, 3. September 2001, Heft 18

Amerikanisches Dilemma

von Erhard Crome

Im Jahre 1839 notierte Heinrich Heine: »Wer mit Rom Krieg führen will, muß alle möglichen Gifte vertragen können.« Rom, das war Reich und Kirche in einem, Herrschaft mit Legionen oder mit Dogmen, mit Geld, Giften, Diplomaten und ideologischen Bekenntnissen. Auf jeden Fall Herrschaft, die vom Zentrum aus auf die Peripherie greift, imperiale Herrschaft, räumlich tendenziell unbegrenzt. Die Grenze einer imperialen Macht liegt immer dort, wo die Soldaten, die finanziellen Reserven oder der Glaube an diese Macht nicht mehr hinreichen.
Heute heißt Rom USA. Das in Presse und Politikwissenschaft vielbenutzte Stichwort lautet: unilaterale Politik. Die eine Supermacht sei übriggeblieben nach dem Kalten Krieg, militärisch uneinholbar gerüstet, wirtschaftlich außerordentlich, finanzpolitisch mit dem Dollar ausgestattet, jener Weltwährung, über die nur in den USA selbst entschieden wird. Im Vergleich dazu gilt die wohl eher als schwierig.
Die Liste, da die USA sich gegen die Mehrheit der Staaten der Welt, auch gegen das EU-Europa einschließlich Deutschland, stellen, wird immer länger. Die kürzliche Auseinandersetzung um das Kyoto-Protokoll zur Reduzierung der Emission von Treibhausgasen bildet nur eine Facette. Die Verträge zur Begrenzung der nuklearstrategischen Rüstungen interessieren in Washington ebensowenig mehr wie das Atomteststoppabkommen. Die USA blockieren derzeit die Fortentwicklung der internationalen Konvention zum Verbot biologischer Waffen. Sie wollen keine wirksame Begrenzung des Verkaufs und Exports von Kleinwaffen – trägt doch der echte Texaner stets seinen Colt an der Hose. Die Kinderrechtskonvention mögen sie nicht, schon deshalb, weil sie die Todesstrafe für Personen unter 18 Jahren verbietet. Auch den Internationalen Strafgerichtshof, der jetzt in bezug auf Jugoslawien, Stichwort: Milosùevic«, so im Vordergrund steht, kritisieren die USA nunmehr, obwohl sie sich einst zu den Förderern internationaler Gerichtsbarkeit zählten ; sie befürchten, ein »voreingenommener« Ankläger könnte amerikanische Staatsbürger vor dieses Gericht bringen. Sie wissen sicher, warum : Kein Imperium konnte je ohne schmutzige Kriege auskommen.
Es ist richtig, die USA sind die einzige, aus dem 20. Jahrhundert hinterbliebene Supermacht. Bedeutet dies aber, daß sie schalten und walten können, wie sie wollen?
1944, als klar war, daß Hitlerdeutschland und seine Vasallen besiegt sein werden, dies aber nicht ohne die USA zu leisten war, schrieb der Brite D.W. Brogan ein Buch, das den Titel Der amerikanische Charakter erhielt. Es sollte dem englischen Publikum die Eigentümlichkeiten der Amerikaner begreiflich machen, war doch damit zu rechnen, daß diese nun länger in Europa bleiben würden als 1918. Das Buch wurde noch 1945 ins Deutsche übersetzt und erschien 1946 in Stuttgart, mit Lizenz der amerikanischen Militärregierung. Darin wird auch die »amerikanische Art, Krieg zu führen«, beschrieben. Brogan leitet diese aus der Eroberung des amerikanischen Kontinents ab: weite Räume, die Herbeischaffung der Mittel, diese Räume zu überwinden, jeweils vergleichsweise wenige Menschen, die zur Verfügung standen. So entstand die Praxis schrittweisen Vorgehens, ein Krieg der Verbindungslinien, des Nachschubs, der Schaffung einer Überlegenheit an Hilfsmitteln, an Hartnäckigkeit, an Zahl. Auf diese Weise erreichten die Weißen den Pazifik und verdrängten die Indianer. Auf diese Weise führte der Norden im Bürgerkrieg 1861 bis 1865 seine Operationen gegen den Gegner im Süden. Die Konföderierten errangen etliche, militärisch glänzende Siege, am Ende scheiterten sie an ihrer Unterlegenheit bei Menschen, Eisenbahnen, Schiffsverbindungen und schließlich sogar Nahrungsmitteln.
Die Langwierigkeit des amerikanischen Aufmarsches im Ersten Weltkrieg, über die Ludendorff zunächst lächelte, folgte ebenso diesem Muster wie der Aufbau der Zweiten Front im Zweiten Weltkrieg: zunächst das Übergewicht an Menschen und Material, dann der Vormarsch Zug um Zug, unaufhaltsam. Erst mit dem Eintritt in die beiden Weltkriege, das heißt durch deutsche Provokation, sind die USA zu einer global agierenden Militärmacht geworden, und sie haben es bleiben wollen, nunmehr sich als imperiale Vormacht fühlend.
In der Rückschau muß gesagt werden, auch der Kalte Krieg fand nach jenen amerikanischen Spielregeln statt. Nur an wenigen Punkten gab es eine wirkliche Konfrontation mit der Sowjetunion: in Berlin und in der Kuba-Krise. Ansonsten bauten die USA an der globalen Überlegenheit an Mitteln und Ressourcen. Die sowjetischen Führer ließen sich auf das so bewirkte Wettrüsten ein, und wurden schließlich immer hilfloser. Die kommunistische Kapitulation von 1989 war die historische Konsequenz.
Die jetzige Lage ist davon jedoch völlig verschieden. Die USA sind wirtschaftlich stärker als jede andere Volkswirtschaft in der Welt; die anderen zusammen jedoch immer größer. Bereits die EU tendiert zu einem beträchtlicheren Gewicht. Die USA sind militärisch mächtiger als jeder andere Staat der Welt. Das russische und chinesische Potential aber ist wohl hinreichend, seinerseits die Welt zu zerstören. Es gilt also weiter die alte Weisheit aus der Zeit der nuklearen Konfrontation: Es gibt keine vernünftigen politischen Ziele, die so realisierbar wären. Die amerikanische militärische Überlegenheit taugt weder, Rußland oder China wirksam militärisch zu erpressen, noch dazu, die volkswirtschaftliche Entwicklung Europas oder Chinas aufzuhalten.
Gegenüber der gesamten übrigen Welt ist die amerikanische Art, Krieg zu führen, nicht mehr umsetzbar. Die USA sind heute in einer Lage wie in Europa einst Karl V., Napoleon oder Wilhelm II.: Die anderen zusammen sind stets stärker als die stärkste der Mächte. Deshalb konnte beispielsweise auch die Bonner Kyoto-Konferenz – trotz amerikanischer Obstruktion – zu einem, wenngleich bescheidenen Resultat gebracht werden.
Die Welt wird multipolarer. Das ist das amerikanische Dilemma. Und das ist gut so (um einen derzeit gängigen Berliner Spruch zu benutzen).