Des Blättchens 4. Jahrgang (IV), Berlin, 9. Juli 2001, Heft 14

Die Mauer und der Frieden

von Fritz Klein

Unverdrossen melden sich Leserbriefschreiber mit der Mär von der Rettung des Friedens am 13. August 1961 zu Wort. Das seinerzeit tausendfach verbreitete Foto der martialisch aufgebauten Kampfgruppler am Brandenburger Tor scheint immer noch zu wirken. Dabei war die Botschaft des Bildes falsch. Nicht auf der Westseite des Tores, wo kein Angriff abzuschlagen war, hätte man die Bewaffneten postieren müssen, sondern auf der Ostseite, wo der zunehmende Flüchtlingsstrom die Gefahr darstellte, die abzuwehren der eigentliche Sinn der Aktion war. Vollmundig und blind gegenüber der Realität in beiden deutschen Staaten feierte Ulbricht in einer Rede über Fernsehen und Rundfunk der DDR am 19. August den grandiosen Sieg, der am Sonntag zuvor am Brandenburger Tor über die Bonner Ultras errungen worden sei, ein Sieg, dessen Vollendung darin bestehen müsse, daß die Westdeutschen die Ultras an Rhein und Ruhr schlagen. Nur nebenher tat er die Massenflucht von Bürgern seines Landes mit Kraftworten gegen die Abwerbung und das Menschenhändlerunwesen westlicher Geheimdienste ab, denen nun endlich ein Riegel vorgeschoben worden sei.
Es war überhaupt eine Zeit drohender, großspuriger Redensarten. Der Zweite Weltkrieg sei noch nicht zu Ende, tönte Bundesverteidigungsminister Strauß und gab damit der SED-Propaganda ein Stichwort für ihre These vom angeblich bevorstehenden Einmarsch der Bundeswehr mit klingendem Spiel durchs Brandenburger Tor. »Jeden Tag kommen wir der Stunde der allerhöchsten Gefahr näher«, beschwor der neue USA-Präsident Kennedy im Januar 1961 die Horrorvision einer weltweiten Aggression des Kommunismus und heizte die Situation in einer Fernsehrede am 25. Juli weiter an, mit der Ankündigung neuer Rüstungsforderungen und dem Hinweis auf die Notwendigkeit verstärkter Anstrengungen für den Luftschutz in den Städten Amerikas, sei es doch verantwortungslos, den Bürgern nicht zu sagen, »wohin sie gehen sollen, wenn die ersten Bomben fallen«. Prompt kam die Antwort. Jeder Staat, der sich an dem angeblich geplanten Angriff der NATO auf das sozialistische Lager beteilige und damit mitwirke an der Auslösung eines Dritten Weltkrieges, werde »die ganze Zerstörungskraft unseres mächtigen Schlages« zu spüren bekommen, erklärte Chruschtschow in einer Rede im sowjetischen Fernsehen am 7. August. Und als ob er Kennedys makabre Spekulationen bestätigen wolle, fügte er hinzu, daß der Krieg auch »ins Haus des amerikanischen Volkes kommen wird, das seit dem Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten ein Jahrhundert lang von militärischen Operationen auf seinem Kontinent verschont geblieben ist«.
Nichts von dem, was da hin- und herüber gedroht oder befürchtet wurde, geschah. Aus der Luft gegriffen waren all die Schrecknisse gleichwohl nicht. Es gab weltweit die Konfrontation zwischen zwei Lagern, die sich gegenseitig aufs äußerste mißtrauten, sei es, daß die USA in jeder antikolonialen Befreiungsbewegung die Hand Moskaus sahen (1961 war die Lage in Laos oder im Kongo für die amerikanische Führung zunächst weit wichtiger als Berlin), sei es, daß die Herrschenden im bloc (so hießen die Staaten des Warschauer Pakts im internen Politjargon der Amerikaner) jeden Versuch, die inneren Verhältnisse etwas offener und demokratischer zu gestalten, rigoros verfolgten als Unterstützung des westdeutschen/amerikanischen Imperialismus. Alle beteuerten, nichts mehr zu ersehnen als den Frieden, dessen Festigung allein ihre Politik diene. Und überall gab es »Tauben« und »Falken«, Politiker und Militärs in hohen Funktionen, die maßvolles Vorgehen empfahlen oder sich nicht nur einsetzten für die Drohung, sondern rasch auch für die Anwendung militärischer Gewalt, bis hin zum Einsatz von Atomwaffen. Das Schweinebucht-Abenteuer im April 1961 zeugte davon.
Was aber Berlin anging, so lag die Hauptverantwortung für die sich 1961 rasch zuspitzende Krise bei der Sowjetunion. Chruschtschow hatte sie im November 1958 mit einer Rede ausgelöst, in der er zur »Normalisierung« der Lage in Berlin die Umwandlung Westberlins in eine »Freie Stadt« forderte. In der seither immer heftiger betriebenen, von der DDR-Führung sekundierten, Kampagne hatte sich als Ziel des Vorschlags eine entscheidende Beschneidung, auf die Dauer die Aufhebung der Rechte und der Präsenz der Westalliierten in der Stadt klar herausgestellt. Die amerikanische Führung reagierte zunehmend nervös auf diesen Plan, in dem sie eine Schwächung einer wesentlichen, seit dem Ende des Krieges innegehabten Position erblickte, die sie, in Übereinstimmung übrigens mit der großen Mehrheit der Westberliner Bevölkerung, nicht aufzugeben bereit war. Im Archiv der John F. Kennedy Library in Boston befindet sich eine Fülle von Dokumenten aus dem lebhaften Meinungsaustausch zwischen Weißem Haus, Pentagon, State Department, CIA, einflußreichen Beratern und Freunden des Präsidenten über die angemessene Reaktion auf die sowjetische Drohung.
Eine Studie der Stabschefs von Heer, Luftwaffe und Marine, der Joint Chiefs of Staff, über Non-nuclear military action to reopen ground access with substantial forces vom 5. Mai 1961 verdeutlicht, was man fürchtete und wie der Gefahr begegnet werden sollte. Voraussetzung für die Inangriffnahme der in vielen Einzelheiten aufgeführten militärischen Maßnahmen sei, so heißt es einleitend, die sufficient persistent physical interference with military and/or civilian traffic to and from Berlin, wether by East Germans or by Soviets. Es war der ungehinderte Zugang zu und von Berlin für die Westalliierten, dessen gewaltsame Behinderung man fürchtete und gegen die man vorgehen wollte. Kernwaffeneinsatz, ein irreversibler Schritt, von dem es kein Zurück gebe, wurde ausdrücklich abgelehnt. In diesem Zusammenhang ist die Erleichterung über die Bewahrung des Friedens zu sehen, die Kennedy am 13. August gezeigt haben soll, was unverständlicherweise von unentwegten Verteidigern des Mauerbaus als eine Art Rechtfertigung der Aktion angeführt wird. Die Westmächte wollten keinen Krieg um Berlin und waren froh, daß sie militärisch nichts zu tun brauchten, als der Osten sich auf die »Sicherung der Staatsgrenze«, das heißt die Einmauerung der eigenen Bevölkerung, beschränkte. Die Kriegsgefahr war vorbei, das kann man sogar sagen. Ausgegangen aber war sie nicht vom kriegslüsternen Imperialismus, sondern von der friedliebenden Sowjetunion – deren Führung vernünftigerweise darauf verzichtete, die Drohungen ihres Ministerpräsidenten wahrzumachen.