Des Blättchens 4. Jahrgang (IV), Berlin, 30. April 2001, Heft 9

Ketzer

von Stefan Bollinger

Fünfundfünfzig Jahre nach der Vereinigung von KPD und SPD ist die PDS von ihrer Geschichte und der modernen Entschuldigungsmanie eingeholt worden. Erwartungsgemäß fiel das Echo aus: Die Genossen haben Schwierigkeiten mit dem verklausulierten Schuldeingeständnis, daß »die Gründung und Formierung der SED auch mit politischen Täuschungen, Zwängen und Repressionen vollzogen« wurde. Die Adressaten in der SPD – Enkel der sich damals oft unfreiwillig in einer stalinistischen Partei wiederfindenden Genossen, die Arbeitereinheit anders dachten – waren ob der Entschuldigung auch nicht froh. Zwar war und ist es ihr Wunsch, daß die SED-Nachfolgepartei stets in Sack und Asche gehe; aber auch ein noch so tiefer Kniefall soll sich nicht in wirkliche Gleichberechtigung von Partnern niederschlagen. Dazu ist man auf Bundesebene viel zu sehr Konkurrent, und die Bundestagswahl steht vor der Tür: Manches spricht dafür, daß es wieder ein Kampf um »Freiheit statt Sozialismus« wird. Da kommen die Linkssozialisten und wollen gleich beides – wo die SPD dem Sozialismus lange abgeschworen hat – und sich dann noch als Juniorpartner andienen, der vielleicht gar nicht gebraucht wird.
In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten von Mario Keßler von Interesse. Er ist einer jener jüngeren ostdeutschen Wissenschaftler, die auch nach Ausgrenzung der DDR-Eliten wissenschaftliche Fähigkeit bei Festhalten an marxistischen Positionen unter Beweis stellen. Bislang hat er Glück und eine befristete Stelle. Furore machte er mit Untersuchungen zum Antisemitismus in der kommunistischen Bewegung, die sich auch im Band Heroische Illusion und Stalin-Terror. Beiträge zur Kommunismus-Forschung niederschlagen (VSA-Verlag Hamburg, 237 Seiten, 32,80 Mark). Im Zentrum dieser Texte stehen die Komintern in historischer Sicht und die marxistische Kommunismuskritik.
Die Fähigkeit zur kritischen Selbstbefragung war in der kommunistischen Bewegung spätestens nach Lenins Tod nicht gerade mehr sehr ausgeprägt. Mit ihm starb eine demokratische Streitkultur, die immer »ein Mindestmaß an Toleranz im Umgang miteinander« bewahrt hatte. Aber Lenin stellte – gemeinsam mit Trotzki – 1921 durch das Fraktionsverbot auf dem X. Parteitag der KPR(B) und die Niederwerfung des Kronstädter Aufstandes die Weichen zu einem kritik- und demokratiefeindlichen Staatssozialismus. Aus der zeitweiligen Einschränkung wurde jenes Verhängnis, das Stalin vollendete. Der sorgte dafür, daß Bewegung und Ideologie in streitfeindlicher »Harmonie« erstarrten. Zwar fesselten das revolutionäre Nachleuchten, die humanen Ideale noch auf Jahrzehnte Menschen, ließ sie im antifaschistischen, nationalen wie sozialen Befreiungskampf zu Märtyrern werden. Im Inneren sorgte der nun an die Macht gekommene bürokratische Apparat dafür, daß es keinen Streit, kein Ringen um Konzepte gab, sondern nur noch »die« Generallinie. Wer sich dagegen stellte, wurde als Ketzer stigmatisiert, endete in der »endlosen Stalinschen Bartholomäus-Nacht« 1936 bis 1938 vor Erschießungskommandos oder im GuLag, später »nur« in Gefängnis, Exil oder als Unperson. Mit dem Ende des Suchens nach Alternativen verlor letztlich der Sozialismus als Idee und als zukunftsfähige Gesellschaft.
Am Beispiel Leo Trotzkis, Milovan Djilas’, Ernest Mandels und vor allem von KPO und SAP unternimmt Keßler den erfolgreichen Versuch, Elemente einer Gegengeschichte und eines alternativen Denkens wie Handelns jenseits der radikalen Linken aufzuzeigen, die unterdrückt und verschmäht wurden. Die alternativen kommunistischen Denker blieben letztlich erfolglos. Gegen sie sprachen die Machtverhältnisse in den stalinisierten Parteien ebenso wie das Beharrungsvermögen der Mitglieder, ihre Anfälligkeit für revolutionäre Phrasen und für die Bequemlichkeit vorgegebener Gewißheiten und Strukturen. Nicht zu übersehen ist, daß manche der »Ketzer« erst nach ihrem politischen Scheitern und Unterliegen zu jenen Einsichten gelangten, die die Schwachstellen der kommunistischen Bewegung stalinschen Zuschnitts offenbarten. Was wäre aus ihnen geworden, hätten sie selbst Macht behalten?
Schließlich muß daran erinnert werden, daß die linken Kleinparteien in der Weimarer Republik, die Keßlers berechtigte Aufmerksamkeit besitzen, durch ihre Stellung zu Zeiten der Polarisierung zwischen den beiden Hauptströmen der Arbeiterbewegung und gegen die sich durchsetzenden Nazis nicht jene Binde- und Durchsetzungskraft besitzen konnten, wie es ihrer unverstellten und differenzierten Sicht auf den Charakter sowohl der stalinisierten KPD als auch des deutschen Faschismus entsprochen hätte. Vielleicht stets das Problem kritischer Intellektueller zwischen den Stühlen ? Die Alternative zwischen »revolutionärer Realpolitik und orthodox-radikalistischen Positionen«, wie sie Keßler in der KPD festmacht, war und ist angesichts des pragmatischen Mitschwimmens vorgeblich linker Politiker wohl nicht der einzige Widerspruch, den kritische Geister aushalten müssen.
Es lag nicht an der marxistischen Theorie, daß sie zur Begründung eines letztlich diktatorischen Regimes verkommen mußte, das den Befreiungsanspruch zerstörte. Sie bot immer auch den Ansatzpunkt für eine kritische Selbstbefragung, »die monolithische Einheit der kommunistischen Bewegung, von Stalin mit Gewalt hergestellt, blieb auf Dauer Fiktion«. Häresien waren, wie Keßler schreibt, immer wieder ein Versuch, den emanzipatorischen Ansatz zurückzugewinnen. Kritisches Denken gegen die Vereinfacher und schnellen Erfolgs- und Machtsucher zu stellen, bleibt Herausforderung an kritisches Denken bis heute – unter den Linken und genauso in der heute gleichgeschalteten kapitalistischen Gesellschaft. Ketzer bleiben gefragt! Keßler hat recht: »Schonungslose Analyse aller unserer Irrtümer, Fehler, auch der im Namen des Kommunismus begangenen Verbrechen ist die unerläßliche Voraussetzung für eine Erneuerung einer sozialistischen und zugleich radikal-demokratischen Bewegung.«
Mit Entschuldigen ist es in der Geschichte am wenigsten getan. Entscheidungen lassen sich nicht rückgängig machen, verlorene Jahre nicht ersetzen, Tote werden nicht lebendig, Bautzen und Workuta nicht ungeschehen. Sinnvoll bleibt allein, Geschichte möglichst nahe an dem zu schreiben, was war, mit ihren Zwängen und Alternativen, Leistungen und Verbrechen, mit Licht und Schatten. Und dem Hoffen, daß künftige Generationen es besser, anders machen.