Des Blättchens 4. Jahrgang (IV), Berlin, 19. Februar 2001, Heft 4

Ossi-Quote

von Erhard Crome

Bei uns wird diskutiert«, lautet ein schon mehrfach im Blättchen mitgeteiltes Tucholsky-Motto. Ich will es beim Wort nehmen. Eher verschämt als provozierend hat Stefan Bollinger im vorigen Heft (3/01) auf die fehlende ostdeutsche Öffentlichkeit verwiesen und gemeint, daß »vielleicht« auch Quoten für Ostler eine Chance bieten könnten. Für wen eigentlich? Nur für die Ossis, die statt der viertklassigen West-Personen in Positionen im Osten aufrücken? Rolle-Rückwärts im sachlich gescheiterten Eliten-Transfer? Hier stimme ich ausdrücklich Bollingers Befund zu: Die meisten der Westler, die im Osten auf den einträglichen Posten sitzen, sind nur Kriegsgewinnler nach dem Scheitern des Kommunismus. Sie bleiben mental, inhaltlich und strukturell auf den Westen bezogen und wollen keine der Funktionen im Osten wirklich wahrnehmen, die den sogenannten »Eliten« gemeinhin zugeschrieben werden.
Die Folge ist: Die ostdeutsche Gesellschaft hat keine eigene Öffentlichkeit, in der sie ihre Probleme artikulieren und in politische Willensbildung umsetzen könnte. Die in den neunziger Jahren zunächst regierenden Konservativen haben absichtsvoll verhindert, daß der Herbst ’89 dauerhaft zu einer politischen Öffentlichkeit führte. Es kam nicht – ich folge hier einer Analyse des Berliner Sozialwissenschaftlers Rainer Land – »zu einer politischen Reflexion der eigenen Lage, der eigenen Interessen und möglicher Gestaltungsoptionen«. So gelte bis heute: »Die ostdeutsche Teilgesellschaft besteht aus Mentalitätsgemeinschaften ohne politische Selbstreflexion und ohne politischen Willen.« Dies ist wohl einer der Gründe für die hier oft ausgemachte »kalte Wut« – so der Begriff von Hans-Joachim Maaz –, die nicht eigentlich einen personifizierbaren Adressaten hat, aber anfällig ward für die rechten Kostümierungen.
Die Besetzung der Positionen im Osten geschah quasi leninistisch. Man besetzte zunächst die Kommandohöhen und machte von da aus den Rest. Exemplarisch die geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereiche an den Universitäten: Da gab es die »Strukturkommission«, die die beabsichtigten Lehr- und Forschungsprofile definierte, den obrigkeitlich eingesetzten »Gründungsdekan«, der das ganze zu exekutieren hatte, dann einerseits die »Berufungskommission«, die das neue Personal auf die Stellen hievte, andererseits die »Evaluierungskommission«, die dem vorgefundenen Ostpersonal seine wissenschaftliche Minderwertigkeit oder Staatsnähe zu bescheinigen hatte. Nachdem die Westdominanz gesichert war, vergossen einige der Führungskader des westdeutschen Wissenschaftsmanagements Krokodilstränen für die Medien, man habe nicht gewußt, daß es so viele gute ostdeutsche Wissenschaftler gegeben habe.
In den Ministerien ist man rigoroser. Da wird, wie kürzlich in Brandenburg, erklärt, man fände nicht genug gute Leute im Osten für die offenen Stellen höheren Kalibers. Leninistisch ganz einfach zu erklären: Die Kader entscheiden alles, vor allem die, die über den Kadereinsatz entscheiden. Als Helmut Holter im Mecklenburg-Vorpommern sein Ministerium übernahm, konnte er den Pressesprecher und den Kraftfahrer mitbringen. Der Rest des Personals war gesetzt. Dafür gibt es ja das deutsche Beamtenrecht.
Meine Frage nun lautet: Kann es eine politische Bearbeitung der Probleme des Ostens geben, die über das Bisherige hinausweist? Ja. Aber nur wenn man der Tatsache ins Auge sieht, daß die Ostdeutschen faktisch eine nationale Minderheit in Deutschland sind. Nach neueren angelsächsischen Forschungsergebnissen zeichnet sich eine Minderheit dadurch aus, daß sie statistisch gesehen eher untereinander ehelicht und Kinder zur Welt bringt als im Gefolge von Beziehungen nach außen und zudem nach eigenen kulturellen Codes kommuniziert. So sind die Ostdeutschen eine Minderheit. Das geeinte Deutschland ist auf eigenartige Weise neu geteilt. Und das kann nicht ohne Konsequenzen bleiben.
Was das bedeutet? In der Erklärung der UNO »über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten angehören« aus dem Jahre 1992 wird betont, daß die Förderung und der Schutz der Rechte von Personen, die Minderheiten angehören, »zur politischen und sozialen Stabilität der Staaten beitragen, in denen sie leben« (Präambel).
Das ist für die Ossis die Bundesrepublik Deutschland, und das soll auch so sein. Umgekehrt aber haben »Angehörige von Minderheiten … das Recht auf wirksame Beteiligung an den auf nationaler und gegebenenfalls regionaler Ebene getroffenen Entscheidungen, welche die Minderheit betreffen« (Art. 2). Detaillierter heißt es dazu im einschlägigen Schrifttum, schön wissenschaftlich: »Bei Minderheitenrechten handelt es sich in erster Linie um Rechte für Gruppenmitglieder, die ohne solche Schutzmaßnahmen erhebliche Nachteile zu erleiden hätten. Dabei lassen sich drei Kategorien von Rechten unterscheiden: (a) Gleichstellungsrechte (Antidiskriminierung), die besagen, daß Angehörige von Minderheiten nicht benachteiligt werden dürfen (z.B. bei der Beschäftigung im öffentlichen Dienst); (b) kulturelle Rechte.« Dazu zählt auch das Recht auf eigene Kultur- und Bildungseinrichtungen und auf eigene Medien. Und schließlich »(c) Repräsentations- und Selbstverwaltungsrechte, die es den Minderheiten (bzw. ihren Vertretern) ermöglichen, sich am politischen Entscheidungsprozeß zu beteiligen und bestimmte Aufgaben in eigener Regie wahrzunehmen.« Das Zitat stammt übrigens aus einem Text über Südosteuropa vor dem Bombardement.
Wieviele Ossis sind eigentlich an den wirklichen politischen Entscheidungen in diesem Lande beteiligt? Beklagt wurde das Fehlen ostdeutscher Stimmen in wichtigen politischen Debatten der Bundesrepublik. Wie viele Ossis haben denn Zugang zu den Feuilletons und den Kommentarseiten der großen überregionalen Zeitungen? Wie viele Ossis, die diese Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre wissenschaftlich begleiten, haben denn eine Professur, statt sich von prekärem Projekt zu prekärem Projekt zu hangeln?
So ist es dringend an der Zeit, über die Ossi-Quote zu reden. Alle Argumente, die im feministischen Diskurs der vergangenen zwanzig Jahre über die Quote entwickelt wurden, finden hier sinngemäß Anwendung. Ohne die Quote wird es keine Veränderung im Sinne selbstbestimmter Artikulation und Verwaltung des Ostens geben.
Das ginge nicht, weil die Qualifikation fehle? Das Argument, daß der Eingeborene sich nicht selbst regieren könne und daher den »Massa« mit dem Tropenhelm brauche, dürfte sich mit dem Ende des klassischen Kolonialismus erledigt haben.