Des Blättchens 3. Jahrgang (III), Berlin, 16. Oktober 2000, Heft 21

Solidarität mit Milosevic

von Jörn Schütrumpf

Slobodan Milosevic hat so lange taktiert, bis ihm keinerlei Durchstechereien mehr nützten. Ein ganz bestimmter Teil der deutschen Linken trägt nun Trauer: Slobo, der Held der serbischen Unabhängigkeit, gilt als Opfer des USA-Imperialismus. Mitunter scheint in solchen Äußerungen sogar der Gedanke durch, Slobodan Milosevic habe in Rest-Jugoslawien die letzte Bastion des europäischen Staatssozialismus verteidigt.
In zweierlei Hinsicht sind sich die revolutionär-altgläubigen Linken einig: im Verdrängen unbequemer Wahrheiten und im Erfinden von Rechtfertigungslegenden. Hoch oben rangiert die Mär, Großdeutschlands Außenminister Genscher habe im Dezember 1991 Jugoslawien durch die diplomatische Anerkennung Sloweniens und Kroatiens in den Krieg getrieben. Daß der Krieg von Slobodan Milosevic schon im Sommer 1991 ins jugoslawische Staatsterritorium getragen wurde, kann man in bestimmten Kreisen heute nicht mehr sagen, ohne niedergebrüllt und der Lüge bezichtigt zu werden. Der Krieg hat erst mit der Anerkennung durch Genscher begonnen zu haben; wenn es sich anders verhielte, um so schlimmer für die Wirklichkeit. Immer noch: Einheit, Reinheit und Geschlossenheit – und sei es um den Preis der Halbwahrheit oder Lüge.
Unter den deutschen Linken, die sich mit Slobodan Milosevic solidarisieren, sind nicht wenige Leute, die früher die jugoslawischen Kommunisten als Revisionisten denunzierten oder – noch früher – zu deren Beschimpfung als titoistische Faschisten beziehungsweise Anhänger der faschistischen Tito-Rankovic-Clique schwiegen, wenn nicht gar Beifall spendeten – während sie für den Genossen Stalin im Präsidium einen Stuhl aufstellten.
Als einziger Führer der europäischen sozialistischen Staaten überlebte Slobodan Milosevic politisch die Jahre 1989 bis 1991. Das lag weniger an der Sonderrolle, die Jugoslawien seit 1948 spielte, sondern vor allem am Machtinstinkt von Slobodan Milosevic. Noch bevor seine Amtskollegen in Berlin und Bukarest um ihre Altersbeschäftigungen gebracht wurden – der eine mit einem symbolischen Dolch von Brutus Krenz im Rücken, der andere mit sehr realen 7,62er Geschossen in der Brust – hatte Slobodan Milosevic die Zeichen der Zeit erkannt und umgeschaltet: vom Sozialismus der Phrase auf den Chauvinismus der Tat. Die Feiern zum fünfhundertjährigen Jubiläum der Niederlage auf dem Amselfeld im Juni 1989 gerieten zur Ouvertüre einer verschärften antimuslimischen und antialbanischen Kampagne. Serben seien in Jugoslawien einem stillen Genozid durch die anderen Völkerschaften ausgeliefert; nun gelte es, in den heiligen Abwehrkampf zu treten – natürlich in den Grenzen Jugoslawiens. Die Serben seien schließlich das auserwählte Volk.
Im Ostblock existierten drei Mehrvölkerstaaten, die mit mehr oder weniger administrativem Druck zusammengehalten wurden: die UdSSR, die CSSR und Jugoslawien. In der UdSSR und in der C˘SSR wurden die herrschenden kommunistischen Parteien gestürzt; im zweiten Schritt zerfielen beide Staaten in Nationalstaaten, wobei dies in der UdSSR ironischerweise vom Zentrum ausging. Die Tschechen hatten keine Lust, bei den Slowaken zu betteln, als diese ihren Austritt ankündigten, und sagten: Geht mit Gott – was man in Bratislava so nicht erwartet, ja eigentlich nicht einmal gewollt hatte. In Jugoslawien hingegen entfesselte die herrschende Partei den Chauvinismus der größten Nation und hielt sich dadurch an der Macht. Mit Sozialismus hatte das alles nichts zu tun. Slobodan Milosevic und seine Familie begannen, Gelder für die Zeit danach ins Ausland zu transferieren.
Auch der Gegensatz, in den Jugoslawien mit den USA geriet, hat nur wenig vom Systemkonflikt zwischen Kapitalismus und real existierendem Sozialismus. Viel mehr geht es um den alten europäischen Großmachtkonflikt (in dem die USA unterdessen die Führung des Westens übernommen haben), wer auf dem Balkan über welchen Einfluß verfügt. Die regierenden Ex- und Antikommunisten in Rußland unterstützten nicht den Sozialisten Milosevic, sondern den Chauvinisten und Kriegsverbrecher Milosevic – galt er doch als einziger Garant für russischen Einfluß auf dem Balkan.
Slobodan Milosevic ist nicht Josef Stalin. Zwar war auch Stalin zum Verbrecher geworden. Weltgeschichtlich gesehen, war er sogar der erfolgreichste Kommunistenmörder. Trotzdem unterstützte ihn während des Krieges die Linke, auch große Teile der nicht- und antistalinistischen Linken. Denn zu Josef Stalin gab es im Kampf gegen Hitler, einen hochgerüsteten Juden- und Slawenmörder, keine Alternative. Die Rote Armee befreite Europa von der faschistischen Barbarei und rettete die europäische Zivilisation in ihrer ganzen Janusköpfigkeit.
Ein beliebtes Spiel ist es, Stalins Verbrechen gegen seine kriegerischen Leistungen aufzurechnen und dabei vergessen zu machen, daß keineswegs nur Chamberlain und Daladier Hitler den roten Teppich an die Front rollten. Denn der Nichtangriffspakt machte den Polenfeldzug erst aussichtsreich. Der Spieler Hitler pokerte wie stets, und Stalin ließ ihn gewinnen – um, wie er glaubte, selbst zu gewinnen: durch einen Abnutzungskrieg im Westen, der Frankreich, Großbritannien und Deutschland ermatten lassen und so für die Sowjetunion den Boden bereiten sollte. Statt dessen stand im Sommer 1940 die UdSSR plötzlich einem Deutschland gegenüber, das sich auf die Ressourcen ganz Europas stützen konnte. Stalin hatte übertaktiert. Dies zu erwähnen gilt bei nicht wenigen – ständig ihre Wissenschaftlichkeit im Munde führenden – Linken als un-chic: Stalin brach Hitler das Genick – dahinter hat alles andere zu verbleichen, nicht zuletzt die Gebeine seiner Opfer.
Slobodan Milosevic hingegen hatte nichts zu retten als seine Macht und den Wohlstand seiner Familie. Dafür opferte er – im Zusammenspiel mit den Kriegsverbrechern unter den anderen jugoslawischen Völkern – das Blut von Serben, Kroaten, Bosniern und Albanern.
Rest-Jugoslawien wird sich jetzt genauso IWF und Weltbank, NATO und EU unterordnen müssen wie zuvor die anderen Ostblockstaaten. Ob es den Serben so wie den Bulgaren und Rumänen oder eher wie den Slowenen gehen wird, ist noch nicht entschieden. Weitere Konflikte auf dem Balkan scheinen aber in jedem Falle vorprogrammiert zu sein. Der Balkan bleibt das europäische Armenhaus.
Den NATO-Krieg 1999 gegen Jugoslawien haben wir im Blättchen vom ersten Tag an befehdet – nicht etwa weil wir Milosevic für Stalin und den USA-Imperialismus für den Erben des deutschen Faschismus hielten. Sondern weil unsere Solidarität den Balkan-Völkern gilt. So viel Internationalismus war manchem Internationalisten dann doch zu mühselig.
Einem Teil der deutschen Linken kam der Jugoslawien-Konflikt ganz gelegen. Denn er gestattete, in den wohlvertrauten Schützengräben des Kalten Krieges zu verharren und unangefochten traditionelle Überzeugungen zu pflegen – statt die neue Situation nach dem Abtreten des Staatssozialismus von der Bühne der Weltgeschichte zu reflektieren. Die Solidarität mit Slobodan Milosevic diente zu einem guten Teil dazu, die eigene Hilflosigkeit, die eigene großmäulige Unfähigkeit zu kaschieren. Die siegreichen Gesellschaften des Westens neigen zum feigen Nachtreten. Slobodan Milosevic hat in Den Haag nichts zu verantworten. Das ist Sache der Serben. In dieser Frage hat er auch meine Solidarität.