Des Blättchens 3. Jahrgang (III), Berlin, 10. Januar 2000, Heft 1

Das große Fressen

von Max Hagebök

Durch die deutschen Redaktionsstuben geht ein Aufatmen. Endlich haben sie ihn. Zu seinen majestätischen Zeiten perlten sie an seiner Barockheit wie Regentropfen von einer Pelerine ab. Die deutsche Journaille hatte Kohl nie so recht naßmachen können. Auch das deutsche Kabarett biß sich allenthalben stumpf.
Als sie schon begannen, die weißen Fahnen zu schwenken und das Hohelied des Kanzlers der Einheit zu singen, stand der Beleibte aus Oggersheim plötzlich im kurzen Hemd. Bewegungslos und das Aussitzen gewohnt, überließ er sich seinen Jägern. Dagegen war Jelzin selbst in der Agonie noch ausgesprochen wendig; sein Abgang am Silvestermorgen geriet zu einem Meisterstück an politischer Inszenierung.
Zu einem Zeitpunkt, als der Neukanzler seine Talfahrt angetreten hatte und so mancher Wähler in eine nostalgische Kohlwende verfiel, wurde die Bombe zum Platzen gebracht. Denn Kohl war für die CDU zu einer Belastung geworden. Die Schäuble und Merkel wollten die Partei modernisieren. Dagegen stand der Altkanzler mit seinen stabilen Kontakten zu den Länderfürsten. Für ihn waren die politischen Niederlagen der SPD-Regierung ein Beweis für den Irrtum der Wähler im Jahre 1998. Kohl hatte sein Instinkt für das politisch Machbare verlassen: Er sah sich nicht nur rehabilitiert, sondern auch wieder obenauf. Die Drähte der Kohlschen Personalpolitik begannen erneut zu vibrieren. Auf gewohnte Weise regierte er in die Partei hinein.
Alle Anzeichen sprachen dafür, daß vom politischen Niedergang der SPD die CDU wenig haben würde, solange vor allem Kohl davon profitierte. Denn ein wiedererstarkter Kohl drohte zu einem unüberwindlichen Hindernis für die notwendige politische Erneuerung der CDU zu werden. In diesem Spannungsfeld mußte die neue CDU-Spitze einen Befreiungsschlag führen. Kohl mußte weg.
Bei der Suche nach einem geeigneten Thema konnten Schäuble und Merkel sich auf die alten Feindschaften in der CDU ebenso verlassen wie auf ihr eigenes Wissen – über die schwarzen Konten der CDU. Heiner Geißler trat die Lawine los, Schäuble heuchelte Unkenntnis, und die Merkel spielte die Moralische vom Lande.
Die Boten der Nachricht standen bereit. Ein Journalist von der Süddeutschen Zeitung, mit bestem Leumund und genauer Kenntnis von den Finanzierungsskandalen der Parteien, erhielt den Aufschlag. Da Journalisten letztlich auch nur Menschen sind, ließen sie ihrer Rachsucht jetzt freien Lauf. Zu lange hatte Kohl sie abgestraft, beschimpft und ignoriert. Nun fielen sie über ihn her: die schwarzen Konten Kohls. Ein Schmarren natürlich. Es sind die schwarzen Konten der CDU.
Diese Konten dienten den Journalisten zur kollektiven Selbsttherapie. Endlich war die eigene politische und moralische Verkommenheit überschattet vom Fehler des großen Vorsitzenden. Vom ZDF bis zur BILD, alle fanden ihre Rehabilitation. Eifrig polierten die Journalisten an ihrem selbstverliehenen Image, die Demokratie überhaupt erst zu ermöglichen. Immer neue Enthüllungen ließen die Kohl-Story jedoch in ein allgemeines Scherbengericht über die politische Klasse umkippen. Jahrelang in den Redaktionen gehütete Geheimnisse über Fehltritte der Politiker hatten im Wettbewerb um die Leser nun Konjunktur. In dieser Form wohl selten, wurden Vermischungen von Politik und Wirtschaft massenhaft sichtbar. Die Medien waren aus dem Ruder gelaufen. In den Vorstandsetagen beäugte man den Lauf der Dinge zunehmend mit Sorge. Die Abstrafung von Rau, Kohl und Glogowski wurde langsam gefährlich: die Republik als Bananenstaat. Das durfte nicht sein. Als erstes trat der Springer-Verlag auf die Bremse.
In der BILD-Zeitung wurden die Leserbriefe kohlfreundlich. Dann folgte eine Ted-Schaltung. Das Ergebnis: Kohl wurde mehrheitlich geliebt. Plötzlich fanden sich verständige Menschen, die das Verschweigen der Spender für eine Sache der Ehre hielten. Der Ton wurde moderater. Journalisten und Politiker fanden Kohls Staatsverständnis zwar überholt, ließen aber nun menschliches Verständnis aufblitzen.
Eigentlich hätte Kohl die Chance ergreifen können. Eine Entschuldigung und der Rücktritt von der aktiven Politik – er wäre gerettet gewesen. Die Merkel legte ihm diese Lösung in den Mund. Doch der Kanzler der Einheit wollte dem nicht folgen.
Nun folgt der letzte Akt der Vernichtung. Diesmal legte Frau Merkel selbst Hand an. Ein kleines Statement in der FAZ, und Kohl verliert die Balance. Die Merkel muß zu Ende bringen, was sie begonnen hat. Dabei immer in der Gefahr, daß der fallende Riese sie begräbt. Für die Journalisten ist die Story dann zu Ende. Die nächsten politischen Korrumpierungen werden wieder aufmerksam registriert und bis zur nächsten Konjunktur hinter Stahltüren verschlossen werden. Man versammelt sich bis dahin wieder an den Tischen der Mächtigen.