Das Blättchen, 2. Jahrgang (II), Berlin, 4. Oktober 1999, Heft 20

Ich bitte um Milde

von Jörn Schütrumpf

Die deutsche Einheit werden die Westdeutschen den Ostdeutschen nie verzeihen. Und die Ostdeutschen werden sie sich wohl auch nicht verzeihen. Die innere Einheit ist nicht gescheitert, es hat sie nie gegeben. Schon im Frühjahr 1990 persiflierte ein westdeutscher Kollege den wohl wichtigsten Euphemismus von Willy Brandt ebenso bösartig wie zutreffend: Jetzt bricht zusammen, was nicht zusammengehört.
Die Ostdeutschen – von einer unbelehrbaren Minderheit abgesehen – haben vor allem eines gewollt: die D-Mark. Dafür waren sie bereit, alles, was sie für wertlos hielten, zu entsorgen: Trabi, Schrankwand, Biographie. Auch wenn sich Helmut Kohl nicht gestreift gewähnt hätte vom Hauch der Geschichte, wäre die Geschwindigkeit des Kollektiv-Harakiris im Osten kaum geringer ausgefallen. 40 Jahre Versorgungskrise waren genug. Hier half weder der Verweis auf Demontagen und Reparationen, auf Kalten Krieg und kalten Winter respektive trockenen Sommer noch auf Emanzipation dank einer revolutionär ertrotzten Demokratie. Freie Wahlen allein genügten nicht mehr.
Kohl trieb lediglich einen Kreisel, der schon rauschhaft tanzte. Sein Tun bediente natürlich sein eigenes (wahl-)politisches Interesse ebenso wie das Interesse all jener, die sich im Osten etwas ausrechneten. Der kleine Westmensch hingegen war ohne jede Chance. Auch wenn er die Nase rümpfte über die Dickleibigen in ihren geschmacklosen Kleidern und stinkenden Autos – angesagt war deutsche Einheit, und die hatte man toll zu finden. Zumal die nun nicht mehr von der Mauer Aufgehaltenen drohten, andernfalls sich alle in Marienfelde anzumelden. Eh man sich versah, reichte der Bonner Staat bis zur Oder.
Die mit Urgewalt hereinbrechende deutsche Einheit nahm den Menschen im Westen über Nacht etwas, was noch wertvoller ist als die D-Mark – sie nahm ihnen ihre Identität. Der westdeutsche Aufstieg nach dem Krieg hatte einen Preis gekostet – den der Osten bezahlte: Wider Willen wurde er russisch-rot. Dafür verachtete man ihn natürlich im Westen. So gehört sich das in Deutschland. Aber auch die Menschen im Westen hatten Drangsal hinnehmen müssen. Ihnen war vieles verboten worden, was zuvor richtige Deutsche ausmachte: plötzlich kein tritt mehr für den Brit’, kein Stoß für den Franzos’, nicht einmal Hatz auf den Juden, zumindest nicht öffentlich. Die Verluste waren herb – und wären ohne den Kalten Krieg noch herber ausgefallen.
In der DDR vermochten es alle Schulen der sozialistischen Arbeit, FDJ-Lehrjahre und Studienveranstaltungen in Marxismus-Leninismus nicht, Klassenbewusstsein zu wecken – verstanden als Abscheu gegen den BRD-Imperialismus. Die Bilder auf Kanal 7 waren stärker. Tief drinnen wuchs im gemeinen Ostmenschen ein vielgestaltiges Gefühl von Minderwertigkeit. Die Strumpfhose aus dem ALDI erwies sich bei „unseren Menschen“ letztlich als treffsichere Waffe. Und die getroffenen waren sogar bereit zu kämpfen – für die Sache von ALDI.
Doch genau das war das Mißverständnis. Ein Gegner macht nur solange Spaß, wie er ein Gegner ist. Noch mehr Spaß macht ein Gegner natürlich, wenn man ihn beschenken muß, damit er weitermachen kann. Das nennt man dann Liberalität. Je weiter die achtziger Jahre voranschritten, desto liberaler wurde der Westen. Die deutsche Einheit jedoch verdarb den Spaß. Nun kann niemand mehr richtig liberal sein.
Honecker ließ sei den siebziger Jahren glauben, die Ostdeutschen seien auf dem Weg zu einer eigenen Nation. Wer wirklich zu einer eigenen Nation wurde, waren die Westdeutschen. Solange allerdings keine Gefahr bestand, daß die DDRler die auf Kanal 7 gehaltenen Sonntagsreden auf Plakate malten, bestand kein Grund, von der neuen Nation in der Mitte Europas zu künden. Im engsten Kreis war man sich jedoch einig: „Mallorca ist näher.“ Bei den Westdeutschen hatten sich eine Reihe ethnischer Merkmale des Deutschtums zurückgebildet. Die Begeisterung für Uniformen war Zivilität gewichen, geistig war man aus einer Welt voller Feinden in den Westen Europas gerückt, Kaiser und Führer versanken im Schatten, den die Sonne Amerikas warf. Nie waren Deutsche so wenig national wie die Westdeutschen. Schon Ende der achtziger Jahre wurde in den Gazetten gemutmaßt, daß die eigentlichen Deutschen im Osten siedelten. Die Westdeutschen – ein postgermanisches Volk. Wenngleich andere Merkmale des Deutschtums erst die volle Reife erlangten: In den Disziplinen Fleiß, Pünktlichkeit und Sauberkeit waren sie Weltmeister.
Konstituierend für die westdeutsche Identität war jedoch der Umstand, im richtigen Teile Deutschlands zu leben. Spätestens seit dem Mauerbau war die DDR kein Konkurrent mehr. Auch wenn die konkrete DDR immer mehr vergessen wurde, eines wurde nie vergessen: die Mauer. Die DDR war Mauer. Sie war steingewordene tagtägliche Bestätigung der Richtigkeit des westdeutschen Tuns.
Am 9.November 1989 gewannen die Ostdeutschen die Freiheit, und die Westdeutschen verloren ihre Identität. Daß die Ostdeutschen im Osten jetzt genauso sein dürfen wie sie, können sie nicht aushalten. Deshalb benehmen sich Westdeutsche und ihr Staatswesen gegenüber dem Osten so, wie sie sich benehmen. Ihm wird das Westdeutsch-Sein verweigert. „Die sollen erst mal arbeiten lernen.“ Anfang der neunziger Jahre wurde der Osten auf eine eigene Reise geschickt. Die Westdeutschen zahlten dafür viel Geld, auch wenn sie im Gegenzug die meisten ostdeutschen Eigentumstitel übernahmen. Eine Bilanz steht bis heute aus und es wird sie wohl auch nie geben.
Der Osten hat sich eingeigelt, selbst in Berlin, wo sich angeblich der Schmelztiegel befinden soll. Ossis und Wessis können sich heute genauso wenig riechen wie Katholiken und Protestanten in Nordirland. Trotzdem wird es keine nordirischen Zustände geben. Berlin ist nicht Ulster, es ist Gott sei Dank zu groß. Hier kann sich jeder vor jedem verstecken, ohne Angst haben zu müssen, gefunden zu werden. Volk mit Raum.
Die Westdeutschen können die Ostdeutschen als Gleichberechtigte nicht ertragen. Man sollte aufhören, ihnen das übel zu nehmen. Sie können nichts dafür, sie sind halt die Verlierer der Einheit. Ich bitte um Milde.