15. Jahrgang | Nummer 1 | 9. Januar 2012

Aufgeregtheiten und Illusionen. Aus der Debattiermaschine (XI)

von Eckhard Mieder

Manchmal wüsste ich gern, was jene Millionen Menschen denken, die weder Zeitungen lesen noch die Nachrichten des Fernsehens schauen. Die gibt es schließlich, vermute ich. Die Riesenschar derjenigen, die nicht mal die Bild-Zeitung lesen und auch nicht aus Gewohnheit die Tagesschau anschalten. Und selbst wenn sie es täten, wenn sie nur das täten – sie nähmen doch nur teil an der selektiven, spärlichen Ausschüttung eines politischen Bewusstseins, das sich gern vierte Gewalt nennt und von Meinungsfreiheit quengelt wie das Kind, dem der Vanille-Pudding heute mal nicht serviert wird.
Ich selbst bin ein rettungslos Verlorener. Ich ziehe mir Zeitungen rein, Magazine, Blogs, das Fernsehen, öffentlich-rechtlich, privat, egal – im Glauben, es ließe sich aus der Fülle etwas filtern und zusammenrecherchieren, das den Namen „eigene Meinung“ verdient.
Ich habe längst begriffen, dass ich Unsinniges tue. Ich weiß, dass man über die Lage, in der man selbst steckt, keinen vollständigen Überblick haben kann. Der Schiffbrüchige, dessen Kopf auf einer letzten Holzplanke ruht, blickt nicht weiter als bis zur nächsten Welle. Und doch. Und trotzdem. Irgend so ein Blödmann in mir – ich nenne ihn spaßeshalber „zoon politicon“ – will auch noch die nächste und übernächste Welle betrachten. Das Törichte daran, doch wieder nur gleich nass zu werden, grenzt ans Debile.
Also wie ist das mit denjenigen Menschen, die außerhalb der aufgeregten Zirkel leben, Leben zeugen, Leben behüten? Was nehmen sie zur Kenntnis von all den Hypes und Hysterien, die um verlogene Politiker, schmierige Bücher, gespritzte Promis und andere kleinbürgerliche Nutznießer des Großen Egoismus entstehen und gepäppelt werden wie knuddlige Eisbären, über die schon die nächsten Hypes und Hysterien geplant sind, wenn sie denn ausgewachsen sind und beißen können, so richtig um sich und tödlich? Was fangen diese Menschen mit ihren 24 Stunden pro Tag an, in denen sie sich weder für undurchschaubare Tumulte jenseits der Dorf- oder Stadtgrenze interessieren noch für die Geldnöte von Staaten und großen Banken – weil sie selbst zu tun haben, über die Runden zu kommen?
Und sind nicht diejenigen, die von den Hypes und Hysterien leben, sie erzeugen, sie brauchen wie das Stück Torte im Café „Einstein“, selbst nur den Aufgeregtheiten ausgeliefert, nicht auch nur Schiffbrüchige mit der Hoffnung auf einen telegenen Tod?Sind nicht vielmehr die Konsumenten der Hypes und Hysterien, also wir Aufgeregten, die Arschlöcher, die das Leben aufblasen zu einer einzigen Illusion: Du bist verantwortlich für alles, was geschieht, und was immer du in diesem Zauberland tust; die Moral, die Moral, die hat immer recht?
Obwohl die Moral nun wirklich das einzige Medikament ist, das niemand nimmt. In den Mund noch, aber runter kriegen wir sie nicht. Was bliebe denn uns Aufgeregten, könnten wir uns nicht mal mehr an der Bigotterie erfreuen, an den gelegentlich vorgeführten Steuersündern, an einem an einer Schönheitsoperation gestorbenen Porno-Sternchen, an einem Bundespräsidenten, dem sein Amt und sein Schloss viel zu groß sind und der ganz gern in einem Baumarkt-Kamin das Feuerchen anzündet, um Fußsohlen und Familie zu wärmen?
Wir brauchen diese Unglücklichen. Weil sie die Illusionen zerstören, die wir vorher brauchten. Nämlich die von Steuergerechtigkeit, Schönheit und Staatshoheitsvollem. Und den ganzen anderen Mist, auf dem die parlamentarische Demokratie und die vierte Gewalt und dieses und jenes mehr wachsen. Es kommt nicht erst das Fressen und dann die Moral. Es kommt auch nicht erst die Moral und dann das Fressen. Wo Moral und Fressen eins sind, kommt nur der Hunger nach Skandal und Schrott und Scheiße. Und der Ekel davor. Und der Ekel vor uns Ekligen. Und das alles im Kreislauf des Wählens und Gewähltwerdens, in einem Kreislauf, der nicht das Erinnern kennt, nicht das Innehalten, nicht das Zubeswusstseinkommenlassen.
Und dann stehe ich wieder mittendrin und frage mich, ob es nicht Millionen Menschen gibt, die bedauernd den Kopf schütteln und sich die Nase zuhalten. Sie könnten auf die Idee kommen, dass so ein Misthaufen nicht nur stinkt, sondern auch als Scheiterhaufen taugt. Wovor wir Aufgeregten selbstverständlich und berechtigterweise Angst haben. Denn alle, wir alle haben nur das Gute, Reine und Menschenmögliche gewollt. Unter Ausschluss derjenigen Millionen Menschen, von denen wir – nur Illusionen haben? Und Statistiken, Umfragen, Studien, die uns an soziale Gesetze glauben lassen und nicht an irgendeinen Zufall, der sprengend und verändernd wirkt?