15. Jahrgang | Nummer 1 | 9. Januar 2012

Ein guter Europäer im besten Sinne Nietzsches

von Anne Dresden

In einem Filminterview, das 2005 mit ihm in Weimar geführt wurde, sagte der damals 88-jährige Stéphane Hessel, dass er eine seinem jeweiligen Alter entsprechende Anzahl von Gedichten auswendig können möchte. Jetzt dürfte die Zahl der lyrischen Texte in deutscher, französischer und englischer Sprache, die Hessel aufsagen kann, auf ganze 93 gestiegen sein.
Seine Lebensgeschichte kann exemplarisch für das 20. Jahrhundert stehen. 1917 in Berlin als Sohn des Dichters Franz Hessel geboren, wuchs er – nach der Flucht der Familie vor den Nazis – in Paris auf, wo er, seit 1937 französischer Staatsbürger, heute noch lebt. Das Studium führte ihn nach London, der aktive Widerstand gegen die Besatzer in die Reihen der Resistance.
Von der Gestapo verhaftet, erlebte Hessel die Schrecken der KZ Buchenwald, Rottleberode und Mittelbau Dora. Die Lagerhaft überlebte nur, weil er in Buchenwald mit Hilfe von Eugen Kogon die Identität eines verstorbenen französischen Kameraden annehmen konnte. Es ist dieses Stück Biografie, das ihn untrennbar mit der Stadt Weimar verbindet. Und: „Der Kosmopolitismus der Konzentrationslager brachte mich zur Diplomatie.“ Seit 1945 war er im diplomatischen Dienst Frankreichs tätig, zuerst bei den Vereinten Nationen in New York, dann in Genf. Seine besondere Zuneigung gilt auch als Mittneunziger Schwarzafrika und sein bis heute anhaltender persönlicher Einsatz der Demokratisierung der Staaten daselbst. Ein weiteres Betätigungsfeld für den Intellektuellen, der ja seinerzeit aus rassischen Gründen mit seiner Familie nach Paris flüchtete, ist das Engagement für die Immigranten in Frankreich.
Stéphane Hessel selbst bezeichnet sich als einen „Mann der Linken“ und „politisch aktiven Internationalisten“. Der leidenschaftliche Kämpfer für die Menschenrechte bekennt auch: „Meine diplomatische Karriere ist beinahe ebenso atypisch gewesen wie meine Deportation.“
Der trotz seines hohen Alters rastlos tätige Diplomat hatte vor geraumer Zeit mit den beiden Pamphleten „Empört Euch!“ und „Engagiert Euch!“ für Furore gesorgt, die – in Zeiten von „Attac“ und der „Occupy“-Bewegung – überaus kluge wie ebenso kämpferischer Beiträge gegen einen maßlosen Kapitalismus und die fatalen Folgen grenzenloser Globalisierung sind.
Das Jahrhundertleben des Stéphane Hessel – der unter anderem mit dem Philosophen Walter Benjamin persönlich bekannt war – kann jetzt in seinen endlich als preisgünstige Taschenbuchausgabe aufgelegten Erinnerungen „Tanz mit dem Jahrhundert“ nachvollzogen werden. Auch dank einer großartigen Übersetzung zeigen die Memoiren, dass Stéphane Hessel ein guter Europäer im besten Sinne Nietzsches und, wie dieser, auch schriftsprachlich ein vollendeter Stilist ist.

Stephan Hessel: Tanz mit dem Jahrhundert. Erinnerungen. Aus dem Französischen von Roseli und Saskia Bontjes van Beek List Verlag, Berlin 2011, 399 Seiten, 9,99 Euro