14. Jahrgang | Nummer 26 | 26. Dezember 2011

Verluste und Synapsen. Nachrichten aus der Debattiermaschine (X)

von Eckhard Mieder

Was alles im Leben verloren geht. Die Kindheit, die Jugend, ein Staat, ein Krieg. Ein Schlüsselbund, ein Portemonnaie, die erste, zweite, dritte Liebe. Illusionen und Zähne und Überzeugungen. Die Lust am Disput und der Disput um die Lust … In summa wird ein Mensch erst Mensch, indem er verliert. Er definiert sich wesentlich über Verluste. Könnte man sagen; kann man so sagen?
Franz Müntefering, Arbeitsminister a. D., Parteivorsitzender a. D., Bundestagsabgeordneter i. D., machte eine Erfahrung im so genannten wirklichen Leben, als er einen Fahrkartenautomat benutzen wollte und feststellte: Wenn man das eineinhalb Jahrzehnte nicht macht, merkt man, wie sehr sich die Welt technisch verändert.“ (O-Ton, ZDF-Magazin „Mona Lisa“)
Das Technische ist das eine. Das andere ist die überraschende Erfahrung der Leere, des Nichts, der Lücke, der Verunsicherung. Das selbstverständlich Gehorsam-Dienende (der Fahrscheinautomat) erweist sich bei Annäherung (Nutzung) als Weltenrätsel (die Welt hat sich technisch verändert).
Oder neulich, als ich Gast bei einem Pärchen des Frankfurter Westends war. Es gab ein Essen nach Rezepten von Jamie Oliver, roten Wein aus der Gegend um Stellenbosch (Südafrika) und eine kluge, mit Witzigkeit, Charme und Melone angereicherte Unterhaltung.
Wir kamen  auf unsere grad mit Abitur versehenen oder schon ein paar Jahre studierenden Kinder zu sprechen und auf deren, sage ich schonend, Untüchtigkeit zu lesen. Also Bücher, Goethe, Tolstoi, Hemingway, so Kram. Oder Sachbücher über die Leerfischung der Ozeane, über den Krieg in Afghanistan, über den Wert oder Unwert von Patchwork-Familien, so Kram.
Eine der anwesenden Mütter meinte, dass ihre Tochter sich nicht mehr konzentrieren könne. Jedenfalls nicht lange. Es gäbe eine Fähigkeit, schnell Informationen zusammenzukratzen, aus dem Netz, darüber sei die das vertiefende Sicheinlassen auf ein Thema flöten gegangen. Sie könne auf dem Handy schneller simsen als ein Specht in die Rinde hackt oder ein Baby in die Windel kackt.
Ja, bestätigte einer der anwesenden Väter, es gäbe bereits Untersuchungen, die feststellten: Die Synapsen der Internet-Kinder seien andere als unsere mittlerweile fünfzig bis sechzig Jahre alten Synapsen. Die altern ja mit: mit Hirn, Muskeln, Libido, mit diesem Kram …
Ich saß stumm in der Runde und verdaute. Niemand erwartete unbedingt eine Meinung von mir; wir waren uns reichlich einig. Ich träumte, während ich auf dem Wein kaute und das zu weich gesottene Rindfleisch verdaute, dem Wort Synapse nach.
Ein prächtiges Wort. Ich wusste, dass es begrifflich die Kontaktstellen von Nervenzellen zu Nervenzellen fasst; nicht nur, wie ich zwei Tage später nachlas. Synapsen sind auch Kontaktstellen zwischen Nerven- und Muskel-, Drüsen- und allen möglichen Zellen. Dass sich diese verändern können, passt wie Arsch auf den Eimer, pflegte meine Großmutter mütterlicherseits zu sagen, wenn etwas logisch war wie nur was.
Dass diese neu geschalteten Synapsen  zu einer gänzlich anderen Wahrnehmung von Realität oder zu der Wahrnehmung einer Realität, von der wir alte Säcke ausgeschlossen sind, führen, fand ich einerseits bedenkenswert. Andererseits befremdlich-komisch, weil nicht jeder zeitweilig über Dienstwagen und Beraterstab verfügt (Müntefering! Fahrscheinautomat! Technik!) und darüber synaptisch verkümmert. Ich finde, es gibt ein Menschrecht auf Synapsen – und auf Verluste. Auch auf sich verändernde Synapsen, wenn sie sich denn verändern. Auch auf Verluste, wenn die Synapsen sie registrieren oder auch nicht mehr. Ich empfinde Zärtlichkeit für Synapsen. Für meine, für die meiner Kinder, sogar für die vom Franz Müntefering.
Mir fielen, noch an dem geselligen Abend, einige Verluste ein. Nicht so große wie die Pubertät, eine Ehe, ein Grundstück mit Bungalow, ein paar Kartons mit Tagebüchern und ungehorsamen Texten. An solchen Begebnissen kann man zugrunde gehen, indem man seinem Leben ein Ende setzt, in die Armut gerät, anderer Menschen Leben ein Ende setzt. Man kann verbittern oder heiterer werden denn je. Man kann zum Partylöwen oder zum Eremiten werden. Man kann auswandern, sein Geschlecht umwandeln lassen oder Hochstapler werden. All so Geschehnisse, die wir meisten Menschen überleben. Täten wir es nicht, wäre der Planet leer und von natureller Schönheit. Von dieser Alternative für Baum, Tier und Teich, für Berg, Luft und Blume haben wir nicht die geringste Vorstellung. Die Synapsen sind noch nicht geschlossen.
Nein, mir gingen banale Verluste durch den Kopf.
Ich hörte plötzlich den ratternden blechernen Kasten, in den man eine Zwanzig-Pfennig-Münze steckte (oder auch nicht), um vermittels eines Hebels einen Fahrschein zu ziehen. Ich sah die schönen jungen Frauen in der Leipziger Straßenbahn, Linie 16, sitzen, die in Büchern von Lorca und Dostojewski lasen und sehr zufällig ihre Beine mal so, mal so kreuzten, während sie voll konzentriert waren; auf die Texte. Aber so was von voll konzentriert im kurzen Rock.
Ich stand vor der nach Urin stinkenden Telefonzelle, durch deren zerschlagene Scheiben der Wind pfiff, und es war ein Wunder, dass durch das zerfasernde Kabel meine Stimme ging, und vom anderen Ende her kam die Stimme meiner Mutter.
Und ich hörte das Geräusch meiner circa zweihundert Kilogramm schweren RHEINMETALL-Schreibmaschine, das Geräusch knallender Korken (gegen den nachsichtigen Laut eines heutigen Schraubverschlusses), das Klackern des Briefkastens, in dem von Hand geschriebene Briefe landeten, die von Glück und Unglück der Welt handelten … Die Welt hat sich sehr und technisch verändert, stellen meine Synapsen fest, die auch nicht mehr sind, was sie einmal waren.
Und? dachte ich: Na und? Ich, so als Mensch, definiere mich nicht über Arbeit, Einkommen, falsches Blondsein, Auto, Hund und nächste Urlaubsreise, nicht mal über einen Vergleich von jungen und alten Synapsen. Sondern über kleine und mittlere Verluste, so Kram. Weil, dachte ich, auf dem Weg vom Synapsos-Jamie-Land nach Hause in der Tram sitzend: Der Mensch definiert sich über Verluste.
So, liebe Freundinnen und Freunde, wirkt südafrikanischer Rotwein, der um Kapstadt rum angebaut wird …