14. Jahrgang | Sonderausgabe | 5. Dezember 2011

Der deutsche Nationalautor Uwe Tellkamp

von Rüdiger Bernhardt

2008 hat der Arzt Uwe Tellkamp, geboren 1968 in Dresden, den Deutschen Buchpreis bekommen. Deutschland hat endlich wieder einen Großschriftsteller, einen rechten. Nein, nein, gemeint ist nicht, wie manche sich fragen, ob es ein Rechter sei, sondern gemeint ist: einen richtigen. Es wurde höchste Zeit, denn einmal schrie das Gesamtschaffen des Autors nach höchster Anerkennung, immerhin lagen 2 ½ Bücher vor, und – was in diesem Fall hoffnungsvoll stimmt – nach solchen Auszeichnungen hören die Autoren oft auf zu schreiben. Dann stand 2009 der 20. Jahrestag der großen Freiheit ins Haus – an deren Eroberung Uwe Tellkamp als Unteroffizier der NVA tüchtig mitgeholfen hat, da er ihre Verteidigungsbereitschaft untergrub, indem er unerwünschte Literatur westdeutscher Schriftsteller bei sich trug, die er allerdings vermutlich zu schnell gelesen hat. Schließlich benötigte man dringend den zu den vorgesehenen Feierlichkeiten gehörigen Wenderoman, und außerdem war Thomas Mann schon lange tot, und ein neuer Repräsentant deutscher Sprachkunst musste her, und endlich könnte der Nobelpreis auch wieder einmal nach Deutschland kommen, zumal der letzte Preisträger Günter Grass, den Uwe Tellkamp hasst, wie er nicht müde wird zu erklären, ihn natürlich nicht verdient hat – meint Tellkamp. An Herta Müller war noch nicht zu denken – und dachte auch keiner. Ja, der Grass: „Ich hasse die Bücher von Grass“, sagt der neue Großschriftsteller in seiner unnachahmlich deutlichen Art, die so recht geeignet ist, die Sensibilität des literarischen Empfindens und die Toleranz gegenüber anderen Ansichten zu schulen. Wie man hört, soll Grass aus Scham, Tellkamp zu missfallen, endgültig die Feder aus der Hand gelegt haben; viele andere taten es ihm gleich, um nicht vom neuen Poeta laureatus auch gehasst zu werden. Statt des Lorbeerkranzes trägt er vorläufig allerdings die gestreifte Winzermütze.
Es gab viele Gründe, Uwe Tellkamp auszuzeichnen und ihm im Sommer 2009 den Nationalpreis, den Deutschen, hinterherzuschicken. Dass er diesen allerdings mit Maron und Loest teilen musste, war unfair; glücklicherweise hieß die Auszeichnung „Deutscher“ Nationalpreis. Tellkamp hätte sonst glauben können, man hätte ihm im vorauseilenden Gehorsam für sein entstehendes Lebenswerk schon einen anderen Nationalpreis verliehen, denn seine Berufung zum Schriftsteller erlebte er in der DDR am 16. Oktober 1985, um 15.30, wie er Elmar Krekeler vertraute. – Ein bisschen leidtun konnten dem Betrachter die anderen für den Bücherpreis gesetzten Autoren, unter denen sich sogar ein paar richtige Schriftsteller befanden, sie stellten nur die Grüßauguste für eine demokratisch inszenierte Wahl dar.
Ach ja, es gab 2008 auch den Roman „Der Turm“, dessen Titel schon nach Goethe klang und Dante ahnen ließ, frühzeitig hatte man Tellkamp mit Dante verglichen. Der arme Dante. In dem Roman hatte Tellkamp seine Lesefrüchte aus Hermann Hesses „Das Glasperlenspiel“ und Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre „ zu einer neuen Qualität verdichtet, die aus Hesse und Goethe endlich brauchbare Vorläufer für wertvollste Literatur machte, die den Vergleich mit Thomas Manns „Buddenbrooks“ nicht zu scheuen brauchte. Auch andere, weniger bekannte Namen wurden für das Meisterwerk dienstbar gemacht und wurden zum namenlosen Schnörkel in der Unsterblichkeit der Tellkampschen Ruhmeshalle.
In diesem Umfeld war es nicht nötig, die Romane Thomas Manns, Hermann Hesses und Goethes nochmals zu lesen; alles war bei Tellkamp aufgehoben worden, dialektisch, obwohl der Schriftsteller solchen verruchten Begriff ablehnt und sich lieber als „Chronist“ bezeichnet. Das klingt nun nach Shakespeare und nach Christoph Hein, aber es ist nicht sicher, ob Tellkamp solche Zwerge für seine Ahnengalerie zulässt.
Es wäre zudem an der Zeit, Hesse, Goethe und Thomas Mann aus den Lehrplänen zu streichen, sofern einer der Länderfürsten einen der Namen im Lesekanon seiner Herrschaft noch geduldet hat, und durch eine Comic-Fassung von Tellkamps Roman für die Grundschule und einen zweiseitigen Auszug samt Kommentar von Reich-Ranicki für die Gymnasien zu ersetzen. Dazu noch der Satz über Grass, und die Neufassung der deutschen Literaturgeschichte ist fertig. Selbst Journalisten, die den Roman vermutlich nicht oder sehr in Auswahl – besagte zwei Seiten? – gelesen hatten, wussten, dass der Roman „ein Epos vom Stillstand und vom Untergang eines Scheißstaates“ sei. Tellkamp hat einen Roman über die DDR geschrieben, damit keine Irrtümer aufkommen. Endlich war das Meisterwerk der deutschen Literatur im 21. Jahrhundert gefunden; der Rest des Jahrhunderts bietet Zeit für Funk-und Fernseh-, Film- und Videoaufnahmen des Romans.
Die Auszeichnung verschafft Einblicke in die Geheimnisse deutscher Preisverleihungen und stellt so eine kulturhistorische Leistung dar. Als kleine Handreichnung für zukünftige „Turm“-Schreiber, vielleicht auch für „Türmchen“-Schreiber, wäre zusammenzufassen:
Zuerst gilt es, die Erwartungshaltung der Journalisten und Kritiker zu befriedigen. Diese ist nun im Vorgefühl des hohen Jubiläums auf die Enthüllung schrecklichster Zustände in der DDR gerichtet, denn je schrecklicher diese waren, desto größer werden Heldentum und Heldentaten der Helden in der Heldenstadt Leipzig und ihrer Berliner Verbündeten, ganz zu schweigen von den geistigen Helden, die aus „Wir sind das Volk“ „Wir sind ein Volk“ machten. Erste Lehre also: Die Hölle muss geschildert werden, um den Himmel begreifen zu können. Also schrieb Uwe Tellkamp von der Hölle; sie ist bei ihm noch höllischer als bei Dante, denn sie ist eiskalt. Nicht einmal Feuer gibt es mehr in dieser Unterwelt, die Häuser Dresdens lagen „düster und mit aschigen Konturen“. Das ist ein gelungener Beginn. Dann beschreibt man die Entbehrungen und teilt nebenbei mit, dass selbst Knöpfe schwer zu bekommen waren, die Kinder deshalb lieber mit Münzen spielten und diese ins Wasser warfen, die leichter zu bekommen waren als Knöpfe, also nichts wert und keineswegs erarbeitet waren. Solche Details weisen auf gründliche Kenntnisse zum Thema, erzwangen geradezu die Auszeichnung und machten „mehrere Meter sogenannter Wendeliteratur überflüssig“.
Natürlich blieben belanglose Fragen, wie in einem Land, in dem es kaum Knöpfe gab, ein Mensch das Abitur machen konnte und Medizin studieren wollte. Dass konnte ja nicht gut gehen. Und weil das Medizinstudium nicht auf dem direkten Wege erreichbar war, verdingte man sich drei Jahre zur Armee, sicherlich, weil es wenigstens dort genügend Knöpfe gab. Es hätte auch den Weg über den Beruf des Pflegers und die Betriebsdelegierung zum Medizinstudium gegeben, dieser Weg war zwar anstrengend, aber zu schlicht für jemanden, der zum Helden geboren war. Das größte Problem der Hauptgestalt Christian – sie ist das Alter Ego Tellkamps – im Roman ist, wie sie sich in der DDR eine solche Bildung erwerben konnte, die sie sogar nach der Wende in westlichen Gefilden bestehen ließ. Von seinen Lehrern, die Christian alle nur verprügeln will, den Staatsbürgerkundelehrer mit dem „roten und gedunsenen“ Gesicht – was sollte ein Staatsbürgerkundelehrer auch sonst für ein Gesicht haben – besonders intensiv.
Zweitens muss in einem den Bücherpreis anstrebenden Roman das Umfeld stimmen: So werden Straßenbahnen umgeleitet und „ausgedünnt“ oder durch Schienenersatzverkehr ersetzt; fahren sie doch einmal planmäßig, dann „ratterten“ sie und „schlenkerten in den Gleisen“, auch Straßenbahnfahren war gefährlich – heute fahren sie in ganzen Bereichen gar nicht mehr. (Das ist schon ein Fortschritt, ich durfte in einem Gutachten zu einem Schulbuch in den 90er Jahren sogar lesen, dass es in Dresden vor 1989 gar keine Straßenbahnen gegeben habe.) Telefone funktionieren nicht, Straßenlaternen nur selten, und wenn sie leuchten, geben sie „müdes Licht“, Strom ist meist nicht vorhanden. Weihnachten wurden die Weihnachtsbäume mit „elektrischen Zitronen“ geschmückt, die selbstverständlich einen „Defekt“ hatten, und natürlich hieß der Weihnachtsbaum nur Baum, und Weihnachten gab es gar nicht. Mit solch ansprechenden und wahren Details geriet der Roman zum „Roman des Jahres“ und zum „bezwingenden Gemälde jener Deutschen Demokratischen Republik, die sich in ihrem Anfang an der Spitze des sozialistischen Fortschritts wähnte …, in der aber an ihrem Ende nichts herrschte als Mief und Windstille“ (Ulrich Greiner). Und natürlich herrschten die Sowjets, die Dresdner Fußgänger mit „Nu, Dawai!“ davonjagten. Das war der Alltag; „niemand mit erhobenem Kopf, den Blick offen einem anderen Menschen zugewandt“, wie sollte man da auch „russische Offiziere“, die doch eigentlich sowjetische waren, erkennen können. Zumal man, wie eine neue Erzählung Tellkamps ausweisen wird, ins „seelenlose Kollektiv“ der Kombinate „eingegliedert wurde“. Man höre auf den feinen Zungenschlag, aus dem der Zwang erkennbar ist, mit dem man zur Arbeit getrieben wurde. Von diesen Zwängen sind glücklicherweise heutige Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger verschont. Man sieht, es handelt sich eigentlich um keinen Roman, sondern um eine grandiose Gesamtschau, wegen ihrer „Überfülle“ auch als Karikatur bezeichnet, und Tellkamp hätte eigentlich den Preis für die beste Karikatur bekommen müssen. Aber den kann man nachreichen.
Drittens müssen auch Kritiker ihre Lektion lernen, denn Uwe Tellkamp erteilt ihnen sonst schnell die Rüge, vor seiner Literatur versagt zu haben. Übung in solchen Verurteilungen hat er. Zu viele Kritiker, und vor allem die aus dem Osten (Christian Eger, Klaus Walther, Holger Becker), haben die große Kunst des Uwe Tellkamp nicht richtig verstanden und so auch den Deutschen Buchpreis nicht würdigen können. Holger Becker brachte den Roman auf die kürzeste Bewertung, der unbedingt widersprochen werden muss: „Insgesamt aber ist es ein Ärgernis.“ Wo kämen wir denn hin, wenn Ärgernisse schon den Buchpreis bekämen. Dann wären wir vielleicht in einer Demokratie gelandet. Ärger will Tellkamp keinen machen, er kann ihn bei seinem Aufstieg zum Nobelpreis auch nicht gebrauchen.
Viertens schließlich erwecke man den Eindruck, was in dem Buch beschrieben ist, gäbe Wirklichkeit wieder, Handlungen hätten sich so vollzogen, Verhältnisse seien so gewesen, und Menschen hätten sich so verhalten. Dann kommt es zu auszeichnungsverdächtigen Empfehlungen wie der eines Kreistagsabgeordneten auf Rügen: „Tellkamps Roman ist allen zu empfehlen, die schon vergessen haben, wie es zugegangen ist zu DDR-Zeiten.“ Damit hat der Roman die Grenze vom grandiosen Kunstwerk zum wahrhaftigen Dokument überschritten und erreicht historische Unsterblichkeit. Nun kenne ich den Weißen Hirsch recht gut und war oft in der Wolfshügelstraße; das muss aber eine andere Gegend gewesen sein als die, in der Tellkamps Roman spielt.
Fünftens sind unbedingt Zugeständnisse zu vermeiden, es sei vielleicht nicht alles so gewesen wie geschrieben. Tellkamp war gut beraten, erst nach der Auszeichnung zu sagen, er habe sich geirrt, zum Beispiel habe es Kafka-Publikationen in der DDR viel früher gegeben, als er geglaubt habe. Solchen Einschätzungen folgten andere: Edgar Allan Poe war für ihn ein Geheimtipp, durch Zufall gefunden. Usw. usf. – Nach dem Siegeszug des Romans und der Auszeichnungsflut war es entschieden richtig, dass sich Tellkamp von seinem Erstling „Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café“ (2000) distanzierte, denn darin war die bilderreiche Sprache in der Nachfolge Thomas Manns noch nicht in der Weise vollkommen wie im „Turm“. So hieß es in dem Frühwerk: „Es konnte geschehen, dass er einen Band mit Versen aufschlug und ihm wegen eines Wortes, einer Zeile Tränen in die Augen traten.“ Doch der Großschriftsteller hatte sich geirrt: Solche Sätze Tellkamps wurden von Journalisten wie Ulf Heise, an Geisteskraft ähnlich dem Tellkampschen Genie, als „moderne Variation“ der Empfindsamkeit eines Wackenroder oder Tieck, als „Geist der Romantik“ erkannt. Es bleibt mir, wegen aller Worte, aller Zeilen Tellkamps den Tränen in den Augen freien Lauf zu lassen über so viel Schönheit, Wahrheit und Größe unsterblicher Literatur, die nur noch mit Homer vergleichbar ist. Aber wer war schon Homer?
Ein blinder Sänger, aber die Blindheit Tellkamps übertrifft ihn.

***

Es ist das Elend der Welt, dass die Dummen so selbstsicher und die Klugen voller Zweifel sind.

Bertrand Russell

Kapitel mit freundlicher Genehmigung des Verlages entnommen aus – Peter Sodann (Hrsg.): Schlitzohren und Halunken. Von Ackermann bis Zumwinkel, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2010, 192 S., 12,95 Euro