von Klaus Hart, Sao Paulo
Als Deutschlands Bundespräsident Christian Wulff 2011 die chaotische Megacity, Lateinamerikas führenden Wirtschaftsstandort mit über 1.200 deutschen Firmen besucht, wird am Ankunftstag im Zentrum ein Obdachloser lebendig verbrannt, am Abreisetag ein weiterer. In Sao Paulo wüten Todesschwadronen der Militärpolizei, gibt es Massengräber, über 2.000 grauenhafte Slums mit Hunger und Lepra, prostituieren sich schon zehnjährige Mädchen für weniger als einen Euro, um Crack zu kaufen – und vor aller Augen in ganzen Horden zu konsumieren. Man muss sich diese Zustände vergegenwärtigen, die von den allermeisten Paulistanos apathisch-passiv hingenommen oder sogar verdrängt werden, um Situation und Rolle der etwa 70.000 Juden im Menschenmeer der elf, zwölf Millionen zu verstehen. Denn diese „judeus“ scheinen schärfer zu diskutieren, sich effizienter zu engagieren, bringen Resultate, von denen dann alle, ob Arme oder Reiche, etwas haben. Lateinamerikas bestes Hospital, ein Riesenkomplex namens „Albert Einstein“ im Viertel Morumbi, haben die Stadt-Juden errichtet – geleitet wird es von dem weltbekannten Mediziner Claudio Lottenberg, Präsident der jüdischen Gemeinde ganz Brasiliens.
Der in Israel geborene Oded Grajew aus Sao Paulo, Erfinder, Aktivist des Weltsozialforums, verweist auf dessen Bedeutung für die jüngsten arabischen Entwicklungen. „Für jene, die das Weltsozialforum und unsere Spezialforen in Ägypten oder Tunesien mit Interesse und Sensibilität frequentierten, ist alles, was derzeit in der arabischen Welt geschieht, keinerlei Überraschung.“
Und dann Pedro Herz, dessen Kulturkaufhäuser, mit Kinos, Theatern, Kursen und Konzerten in ganz Brasilien tonangebend sind. In einem Land des Analphabetismus, in dem sogar ungezählte Uni-Studenten in ihrem Leben nicht einen einzigen Roman lasen, wird der Deutschstämmige zum Kulturpionier – die größte „Livraria Cultura“ Sao Paulos ist selbst am Wochenende voll wie ein Supermarkt, dort kaufen sogar lateinamerikanische Staatspräsidenten. „Da bin ich stolz drauf – wir verkaufen Ideen!“, sagt Pedro Herz.
Nachvollziehbar daher, dass viele im kosmopolitischen Sao Paulo die jüdische Gemeinde bewundern, stark und gut organisiert empfinden, ausdrücklich als ein Beispiel für die anderen Einwanderergemeinden nennen. Die Juden, heißt es, seien sich einig im Kampf für Menschenrechte, bei der Hilfe für Bedürftige, leisteten gerade im öffentlichen Gesundheitswesen, das außerhalb Sao Paulos oft katastrophal sei, ganz Erstaunliches, weit über ihr Einstein-Hospital hinaus. Ob das den „judeus“ bewusst ist, in einer von Desorganisation und Laissez-faire geprägten Gesellschaft? Redet man mit ihnen, fällt das hohe Maß an Selbstkritik auf, das Messen an höchsten Qualitätsmaßstäben. Für Außenstehende scheint die seit über hundert Jahren existierende Gemeinde stabil zu sein – die Juden selbst beobachten indessen Rückgang, gar Schwächung. Viele, die teils noch vor den Nazis aus Deutschland flohen, erleben bestürzt, dass ihre hoch qualifizierten Kinder just in dieses Land, doch auch in die USA, nach Australien und selbst Israel auswandern, weil sie in Brasilien keine Arbeitsmarkt-und Lebenschancen sehen. Würde die wirtschaftlich-soziale Lage besser, sagt Nelson Rozenchan, Direktor des jüdischen Peretz-Gymnasiums, kämen viele Juden zurück oder migrierten gar hierher. Manche junge Juden Sao Paulos sagen ihren Eltern unumwunden, dass sie in einem Land mit solch einer reaktionären politischen Klasse, unglaubwürdigen Politikern, soviel Unehrlichkeit, ungesundem gesellschaftlichem Klima nicht leben wollen – und weggehen. Rozenchan nennt Zahlen: Vor 20 Jahren gab es in den jüdischen Schulen von Sao Paulo etwa 5.000 Heranwachsende, heute nur noch rund 3.000. In die Synagogen kamen an den Festtagen bis zu 8.000 Juden, heute nur noch etwa 5.000. „Vielen in Sao Paulo Geborenen ist es anders als den vor Pogromen, dem Nazismus Geflohenen leider nicht mehr so wichtig, ihre jüdische Identität zu zeigen, zu stärken, zu betonen – sie nutzen die Synagoge nur noch bei Taufe, Heirat Tod. Viele Juden geben ihr Judentum auf.“
Medienmacher Roni Gotthilf sieht seine Gemeinde im gigantischen, unübersichtlichen Sao Paulo in kleine Inseln zerstreut, deren Bewohnern es lediglich um die eigenen Interessen, vielleicht auch die der eigenen Synagoge gehe. Gotthilf fiele es schwer, die Interessen der gesamten Gemeinde klar zu benennen – doch dass sie schrumpft, steht für ihn außer Zweifel. Viele Juden haben sich assimiliert, dem Lebensstil der anderen Brasilianer angepasst – in einer von Stress, Hektik, Kriminalität und überraschend viel Einsamkeit geplagten Metropole. Junge Juden heiraten immer öfter Nicht-Juden, schicken ihre Kinder nicht mehr in jüdische Schulen, stehen dem Judentum ihrer Eltern fern. „Im neoliberalen Kontext der heutigen Welt kann man sicher relativieren. In Sao Paulo gehen die Leute eher oberflächlich miteinander um – wogegen wir Juden enger zusammenleben, besser zusammenhalten. Doch das Klima hier prägt alle: Wenn die Gesellschaft egoistisch und individualistisch ist, sind wir es in gewisser Weise dann eben auch.“
Durch die schicke Rua Oscar Freire ziehen bei Tropenhitze Gruppen orthodoxer Juden in schwarzem Anzug mit Weste, schwarzem Mantel und Filzhut, umringt von ihren Kinderscharen. Die Familien haben fünf bis sieben Sprösslinge – Liberale, Reformisten oder Konservative bringen es dagegen auf höchstens zwei. Die Orthodoxen, etwa 15 Prozent der Gemeinde, gleichen den Rückgang nicht aus und sind, wie Roni Gotthilf betont, gar nicht gut angesehen. Andere relativieren, sehen bei aller Kritik auch positive Aktivitäten, wie die der Hilfsorganisation Ten Yad mit über 300 Freiwilligen und einer Garküche, die zudem Sozialprojekte der Präfektur leitet und durchweg öffentliches Lob erntet. Die orthodoxe Kleiderordnung gilt indessen als lächerlich und für die jüdische Gemeinde blamabel. „Wer sogar bei schwüler Hitze mit diesen dicken, hochgeschlossenen Klamotten rumläuft, leidet, schwitzt, ermüdet rasch – das ist doch kein Judaismus, sondern Fundamentalismus!“, lauten drastische Kommentare. Andere halten den Orthodoxen zugute, dass sie besonders intensiv versuchen, junge abgedriftete Juden ins Gemeindeleben zurückzuholen, deren jüdische Identität wiederzubeleben.
Der konservative Schuldirektor Nelson Rozenchan stellt unbequeme Fragen. „Zehn Rabbiner haben zur Abtreibung zehn verschiedenen Auffassungen.“ Jetzt, nach Bin Ladens Tötung, erhitzt ihn das Thema Folter. „Wäre ich absolut sicher, dass Folter Menschenleben rettet, würde ich sie anwenden! Ich habe in Israel selbst erlebt,wie es durch Folter gelang, aus Jordanien eindringende Terroristen zu fangen und dadurch etwa 50 Menschen vor dem Tod durch Selbstmordattentate zu bewahren. An dieser Lebenserfahrung kann ich nicht vorbei!“
Mag die Mitgliederzahl der Gemeinde auch abnehmen, die Zahl ihrer identitätsstiftenden Aktivitäten nicht. Herausragend wirkt dabei Sao Paulos Hebraica-Klub, das größte jüdische Gemeindezentrum außerhalb Israels, eine grüne Oase im Betonmeer der Megacity. Viele der jährlich etwa 700 Veranstaltungen, ob Theater, Filmfestival, Konzerte oder Sport, laufen hier – dazu immer neue Aktionen gegen den Antisemitismus. Niemand in Lateinamerika hat soviel über Antisemitismus geforscht und publiziert wie Maria Luiza Tucci Carneiro von der Bundesuniversität Sao Paulo. „Die Gemeinde ist sehr besorgt über zunehmenden Antisemitismus nicht nur in Brasilien, sondern vor allem in Europa – will, dass endlich auch die Regierung mehr dagegen tut.“ Der Lula-Regierung wird von den Juden allgemein vorgeworfen, nicht eben hilfreich gewesen zu sein – des Staatschefs Freundschaft zum Holocaust-Leugner Ahmadinedschad spreche Bände. Neonazi-Gruppen wüchsen täglich mehr in Brasilien, nazistische Symbole, Figuren von Hitler und Himmler würden für 350 Euro ganz offen in Sao Paulo verkauft, Antisemitismus entlade sich auf bizarrste Weise. Taxifahrer schimpfen, an Sao Paulos irrwitzigen Verkehrsstaus seien nur die Juden schuld. Im auch von 15.000 Juden bewohnten Viertel Higienopolis schimpft ein Vater lautstark in der Impf-Schlange, dass er nur wegen dieser „verdammten Juden“ solange warten müsse. „Den Impfstoff für dein Kind hat ein Jude entwickelt“, kontert ein Kipa-Träger. Sei der dann auch ein „judeu maldito?“ Der Vater wird ganz still.
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