14. Jahrgang | Nummer 19 | 19. September 2011

Oma macht ja alles falsch!

von Thomas Zimmermann

Meine gute, alte Oma, dachte ich immer. Eingekochte Marmelade, geschmierte Bemmen und blecheweise Kuchen. Ja, ja, da war die Welt noch in Ordnung, in diesen seligen Kindertagen. Aber der Blick weitet sich allmählich, wird kritischer. Und Oma wird darunter immer kleiner. Meine Oma beispielsweise als Staatsbürgerin betrachtet, ist eine historische Katastrophe. Alle vierzig DDR-Jahre immer brav die SED gewählt – „Es gab ja nüschd anneres …“ – und die Medaillen fürs vorbildliche Arbeiten gesammelt. Mitläufer von der ersten Stunde an. Ansonsten streng unpolitisch, nur eben mit preußischer Disziplin den Bügelfalten im FDJ-Hemdchen der Kinder auf der Jagd. Und nur ganz selten mal Besuch aus dem Westen, und den dann auch strengstens protokolliert im Gästebuch: Wer, wann, wie lange. Es könnt ja jemand mal danach fragen …
Mit der Wende dann in den Ruhestand gehuscht. Oma bereiste als eine der ersten ostdeutschen Rentnerinnen Mallorca, spazierte morgens am Ballermann rum, als es den noch gar nicht gab. Weltenbummlerin, Vergnügungsreisende – von wegen „sozialverträgliches Frühabsterben“. Sozial gesehen also dann doch nichts mit dem Sozialismus. Oder Oma als Frauenrechtlerin: Fehlanzeige. Wo Alice Schwarzer wehe-wehe mit dem bösen Pullermann machte, schwieg sich Oma aus. Und zog Kinder groß. Und arbeitete. Und ließ nur zwei Herren über sich gelten: den Göttergatten und den von ganz oben. Apropos: Oma als Mutter. Seit Frau von der Leiden weiß ich, dass Oma auch auf diesem Gebiet eine Niete war. Bei Problemen zögerte sie nicht lange und wamste alle fünf Kinder durch. Mit dem Gummilatsch. Häusliche Gewalt, fiktive Kollektivschuld und ein Schnäpschen während der Schwangerschaft – was heute heftig in der Kritik steht, lebte meine Oma in vollen Zügen aus.
Zuletzt: Oma als Köchin. Ein trauriges Thema, denn alle älteren und alten Frauen halten viel von ihren Küchenkünsten, aber auch hier hat Oma kräftig versagt. Sämtliche Krankenkassen würden auf Anhieb ihre Beiträge verdoppeln, wenn sie wüssten, wie viele Menschen durch meine Oma mit Übermengen an Fett, Butter, Schmalz und Alkohol in Berührung gekommen sind. Wenn Kinder nicht schlafen konnten, half ein „Underberg“, natürlich. Wenn Oma nicht schlafen konnte, wurde gebacken. Ab früh um fünf. Für Heerscharen von Verwandten, egal, ob sie kamen oder nicht. Hauptsache, vorbereitet sein. Und das ganze Fleisch erst! Herdenweise verschwand das liebe Vieh in Omas Kochtöpfen. Über Methanausstöße und Umweltverschmutzung machte sie sich in ihrer naiven Gutgläubigkeit überhaupt keine Gedanken – ach, Oma …
Und nun? Bleibt denn noch ein gutes Haar an meiner Oma? Nach achtzig Jahren steht eine bittere Bilanz: Nach heutigen Maßstäben ein absolutes Versagen. Nicht einmal richtig flüchten konnte sie und musste zur Strafe gleich noch zwei Jahre in Polen schieben. Ja, wäre sie mal über die Sudeten raus, aber nein!
Heute lebt Oma in ihren zwei Zimmern und alle Verwandten achten sorgsam darauf, dass sie auch dort bleibt. Mit jeder Tagesschaumeldung und jeder neuen Analyse zu egal welchem Thema erkennen wir ihr Versagen umso deutlicher und fürchten sie, die so unzeitgemäß ist: Mitläufer, Schläger, Allesfresser, Unmutter … Manchmal kommen die Urenkel zu Besuch und fragen, wer denn da wohne hinter der abgeschlossenen Tür. Dann schweigen wir betreten und einer sagt: „Das willst du gar nicht wissen. Sonst kannst du nachher wieder nicht schlafen.“ Und ein frostiger Schauer fährt uns über den Rücken. Meine Oma – wie gestrig du doch bist!