14. Jahrgang | Nummer 17 | 22. August 2011

Montag, 25. Juli 2011. Mein schrecklichstes Ferienerlebnis

von Eckhard Mieder

Wir waren fünf Tage auf dem Bohusleden (Schweden) gewandert, hatten das Zelt aufgebaut, wo es uns gefiel, und zum Abend die Pfifferlinge gebraten, die wir unterwegs vom Wegrand pflückten. Blaubeeren gab es händevoll, und wer nie sein Knäckebrot im Freien aß und nie Spaghetti mit geschnetzeltem Dörrfleisch vom Rind und ein Stück Parmesan-Käse dazu, und wer nie aus einem See trank, – der weiß nicht, was  Glück ist. Behaupte ich hier mal.
Und über die Häupter aller Zweifler, Ungläubigen und Zyniker ergießen sich Sand, Wasser und die Kienäpfel des Waldes, sollten sie es wagen, mir in die Haferflocken des Frühstücks zu spucken! Geht mir, Stadtneurotiker, Verkabelte aller Bundesländer und Bewegungsscheue aus dem Licht der Frühe, das den See zum Spiegel macht und den Fels am Ufer zum Badezimmer-Gefliesten! So hätte es bleiben können auf dieser wunderschönen Erde. So bleibt es nicht in dieser beschissenen Welt.
Am Montag, dem 25. Juli, schlossen meine Wander-Liebste und ich die Woche in Südschweden ab, um uns auf den Weg nach Norwegen zu machen. Acht bis zehn Tage lang wollten wir Jotunheimen, das Heim der Riesen, besuchen.
Auf dem Weg dahin bogen wir mit dem Auto nach Grebbestad ab. In Tanumshede Strand steht inmitten von Ferienhäusern, die dicht an dicht stehen und (behaupten die Schweden) den reichen Norwegern gehören, ein Sportshopen. Ein Einkaufsschuppen von der Größe eines deutschen Hornbach-Marktes. Gut besucht, der Parkplatz war rappelvoll, die Spielplätze ringsum von Familien bevölkert. Dass wir aus dem schwedischen Wald nicht nur in die Welt der Strandurlauber, sondern auch in die Welt der Nachrichten geraten waren, wussten wir nicht gleich.
Es war Sekunden nach zwölf Uhr mittags, als wir den Laden betraten – und uns in einer Stille fanden, der wir uns sofort fügten und – die uns irritierte.
Die Kunden ringsum waren Menschen, die die Köpfe gesenkt hielten. Manche hatten die Hände gefaltet. Eine Schweigeminute? Für wen? War jemand aus dem Königshaus gestorben? Der Reißverschluss, der sonst das Schicksal vom Alltag trennt, war ein Stückchen weit aufgegangen –, und es lugte etwas herein in die übliche Geschäftigkeit, von dem wir lieber nichts wissen wollen? Der Tod? Ein Tod?
Als das Standbild wieder zum Leben erwachte, – slow motion, als wäre das Einkaufen zu etwas Obszönem geworden, aber da wir als Kunden eingetreten waren, wollten wir auch als Kunden weitermachen, – fragten wir eine Verkäuferin, was geschehen sei.
Ihre Augen waren starr, sie konnte nicht verstehen, dass wir nicht wüssten … Was denn, zum Geier?! Dass in Norwegen ein junger Mann über achtzig Menschen ermordet hatte. Dass die Zukunft Norwegens, so sprach die Verkäuferin, vernichtet sei. Aber … wie … was … Sorry, wir waren die letzten Tage im Wald, wir wüssten von nichts, und das Mädchen gab Kunde, und uns stiegen die Tränen in die Augen. Über achtzig Menschen. Zumeist junge. Hingerichtet. Von einem einzigen Menschen. In Norwegen?
Stunden später fuhren wir durch Oslo nach Norden. An der schwedisch-norwegischen Grenze hatten wir die „Aftenposten“ vom Tage gekauft. Auf dem Titelbild ein Meer von Blumen, rote Rosen zumeist. Auf zwei roten Tüchern standen die Namen Monica und Ronja. Im oberen Viertel des Fotos ein Menschen-Ufer. Ein Mann fotografiert; sieben Menschen knien bei den Blumen; die meisten schauen, wie wir alle schauen, vermutlich, wenn wir Opfern gedenken und nichts verstehen. Und das Leid nicht die eigene Familie traf, aber irgendwie doch ins Mark.
Ein verhangener Tag. Ein Tag, auf dem ein Schleier lag. Wir schwiegen während der Fahrt. Auch als wir, kurz hinter Oslo, umgeleitet wurden. Die Autos wurden langsamer, Polizeiwagen standen am Straßenrand, so viel Polizei ist in Skandinavien ungewöhnlich, und wir sahen einen kleinen Hügel voller Blumen. Ob eines der Opfer oder mehrere von hier waren?
Am Abend nahmen wir uns ein Hotel-Zimmer in Fagernes. Dieser Luxus war für den Urlaub nicht geplant. Aber wir waren – erschöpft. Nicht von der Wanderung der letzten Tage, nicht von der stundenlangen Fahrt. Es war dieser Tag. Wolken verhangen. Ein Schleier. Eine Milchglasscheibe, auf der wir über einen Abgrund gefahren waren? Angespannt. Schweigend. So viele junge Menschen – , und meine Herz-Beifahrerin sagte zwischendurch: „Die waren so jung wie unsere Tochter! Die waren zum Teil jünger als unsere Tochter!“
Das Fernsehgerät lief. Auf der Seite 3 der „Aftenposten“ war eine Rede des Staatsministers Jens Stoltenberg abgedruckt. Er sprach von Oslo, er sprach von Utoya. Die Zahl der Toten gab er mit 92 an. Utoya? Das Fernsehgerät lief.
Wir kapierten, dass das Massaker auf der Insel Utoya stattgefunden hatte. Südlich von Oslo. Wir kapierten, dass wir an dieser Insel vor Stunden vorbeigefahren waren. Und wir kapierten nichts.