Wohl wissend, daß sie seit Jahren ernsthaft krank war, erschreckte uns nun ihr Tod. Wiederum ist ein Kapitel Tucholsky abgeschlossen.
Zur Redaktion der Weltbühne stand sie bis in ihre letzten Tage in freundlich-freundschaftlicher Beziehung, war großzügig mit Druckgenehmigungen und unterstützte mit einer namhaften Summe die Solidaritätsaktion unseres Journalistenverbandes.
Wie kam ich zu ihr, durfte sie, wie alle ihre Freunde, Frau Mary nennen? Lange Jahre ist es her, ein bitterkalter Januar. Ich war damals im Märkischen Museum zu Berlin für Theater- und Literaturfragen zuständig und beabsichtigte, zu Tuchos 75. Geburtstag eine Tucholsky-Ausstellung zu machen. Doch der Winter, sehr kalt, machte mir zunächst einen Strich durch die Rechnung, wir mußten unser Haus schließen. Aber die geplante Ausstellung sollte nicht darunter leiden. Wir zogen um in die Räume des Kulturbundes in der Otto-Nuschke-Straße.
Ich mußte mir, da mir in den schmalen Korridoren nur Stellwände zur Verfügung standen, etwas einfallen lassen – sowohl in der Anwendung dieser Stellagen wie auch in deren Ausstattung. Ich pfiff auf Chronologie, zeigte nicht Tucholsky als Baby auf dem beliebten Eisbärfell bis zum Grabe im fernen Schweden, sondern versuchte, Beziehungen herzustellen. Mary Tucholsky war zur Eröffnung anwesend und begeistert von dieser, wie sie sagte, einmaligen Tucholsky-Ausstellung. Von dieser Stunde an datierte unsere Freundschaft. Soll heißen, meine Freundschaft mit der einst blonden Krankenschwester Mary, die Tucho während des ersten Weltkrieges kennenlernte. Aber das kann man in den Briefen Tucholskys viel schöner nachlesen, als ich es zu schildern in der Lage bin.
Bevor sie vor einiger Zeit in ein Seniorenheim in Kreuth zog, bewohnte sie im benachbarten Rottach-Egern am Tegernsee eines jener schönen, mit Holzveranden umkleideten Häuser, von denen man einen herrlichen Blick über den See hat. Ich war öfters bei ihr in diesem Haus. Einmal wollte es der Zufall, daß ich am 9. Januar, dem Geburtstag von Tucholsky, dort war. Nach dem Frühstück nahm sie mich an die Hand und führte mich in ein Zimmer, das ich bisher noch nicht kannte. Es war das sogenannte Tucho-Zimmer. Eine dicke rote Kerze brannte.
Das war Frau Mary, die sonst so spröde, herbe und – wohl bescheidenste aller Dichterwitwen. Ich weiß, wie fleißig sie war, mit Verlegern, Schallplatten-Firmen korrespondierte. Aber nie in dem Sinne: schaut her, ich bin die Witwe Tucholskys. Immer stellte sie sich hinter das Werk ihres Mannes. Nie sich in den Vordergrund drängend, immer bescheiden dem Werke Tucholskys sich widmend. Wie oft traf ich junge Studenten, Oberschüler, ja gelahrte Herren Professoren im Häuschen an.
Apropos Häuschen. Im ersten Stock war das Gästezimmer, darin ein Bett von riesigen Dimensionen. Man mußte sich in diesem Bett selbst suchen. Darauf lag eine echt bayrische, dicke Zudecke, unter der ich fast erstickte.
Mary, liebste Freundin, nun sind Sie nicht mehr unter uns. Keiner kann Sie mehr mit ,Frau Mary‘ anreden. Aber im Gedächtnis ihrer Freunde lebt sie so weiter …
Schlagwörter: Alfred Dreifuß, Mary Gerold-Tucholsky


