Kuczynski wird vor Kisch genannt, da er die größere Schuld hat. Worum es geht, ist folgendes. Seit meinem Exil in England fuhr ich von 1936 bis 1939 alle Vierteljahr zur Berichterstattung und um Anweisungen zu erhalten nach Paris, wo sich die Auslandsleitung der KPD befand. An die offiziellen Besprechungen schlössen sich Treffen mit guten Freunden. Der Sonntagnachmittag war dann immer der Runde um Kisch in Versailles, der Abend Anna Seghers und ihrer Familie in Meudon gewidmet. Eines Nachmittags war es wieder so besonders nett bei Kisch; Gisl, seine Lebensgefährtin, hatte mich rührend mit Kaffee und Kuchen versorgt; da erinnerte ich mich plötzlich daran, daß ich 1930 eine, wie mir jetzt schien, recht beckmesserische und überhebliche Besprechung von Kischs Buch „Paradies Amerika“ geschrieben hatte, gestand ihm meine Gefühle und versprach ihm, anläßlich seines nächsten „runden Geburtstages“ eine neue, viel niveauvollere Besprechung zu veröffentlichen. Generös, wie Kisch jüngeren Freunden gegenüber war, wenn sie selbstkritisch ihre Fehler ihm gegenüber einsahen, schenkte er mir daraufhin sein neuestes Buch „Landung in Australien“ mit der Widmung „Meinem Freunde Jürgen sehr herzlich und mit der Bitte, hier noch mehr Einwände zu machen, als er zu meinem Amerika-Buch machte“ (abgebildet in Klaus Haupt/Harald Wessel, „Kisch war hier“).
Es kam zwar noch nicht beim nächsten „runden Geburtstag“ zu einer zweiten Besprechung, aber zum übernächsten gab der Aufbau-Verlag 1955 einen Kisch-Kalender heraus, in dem ich unter der Überschrift „Die zweite Rezension von ,Paradies Amerika‘„ schrieb:
„Lieber Egonek,
ja, jetzt endlich, während Du in der Halle des Ruhms der großen Reporter behaglich lustwandelst – zu rasen ist dort verboten –, schreibe ich zur Feier Deines 70. Geburtstages die längst versprochene zweite Rezension Deines Buches ,Paradies Amerika‘.
Die erste erschien vor fast einem Vierteljahrhundert in der ,Weltbühne‘. Ich hoffe, sie war nicht so kümmerlich, wie ich sie in Erinnerung habe – nein, hineinsehen und sie wissenschaftlich überprüfen möchte ich nicht –; sie kann auch gar nicht soo kümmerlich gewesen sein, denn damals erhielt ich einen Brief von Dir, in dem Du mich so freundlich streicheltest wie Goethe die kleine Bettina, wobei ich gleich zugebe, daß dieser Vergleich ebenso hinkt wie ein ‚allseitig verletzter‘ Tausendfüßler …
Doch nun zur Sache. Ja, ,Paradies Amerika‘ ist ein großes Buch.“
Selbst wenn alle Exemplare der Weltbühne des Jahrgangs 1930 vernichtet worden wären, wüßte die Nachwelt mit Sicherheit zumindest von einer Rezension, daß sie in ihr erschienen war, denn sowohl der Rezensent wie der Rezensierte sind Zeugen dafür.
Und doch!
Zwanzig Jahre später, als Kisch 90 Jahre wurde, sah ich mir die „alte Besprechung“ wieder an. Sie war gar nicht beckmesserisch und überheblich, sie deckte mit Recht eine Reihe Fehler auf, und Ossietzky hatte völlig recht gehabt, sie in der Weltbühne zu bringen. Nur – es war gar keine Besprechung von Kisch, ich hatte nie eine Besprechung von Kischs „Paradies Amerika“ geschrieben, ich hatte in der Erinnerung Kischs Buch mit Emil Ludwigs Buch über Abraham Lincoln verwechselt, das ich in der Tat 1930 in der Weltbühne rezensiert hatte. Darum konnte ich natürlich auch nicht den so freundlichen Brief Kischs, an den ich mich 1955 so gut erinnerte, finden; wahrscheinlich hatte mir jemand anders einen solchen Brief geschrieben. Doch bin ich sicher, daß Kisch, der fand, daß er immer zu freundliche Briefe schrieb, sicher auch diesen Brief bestätigt hätte.


