28. Jahrgang | Sonderausgabe | 1. September 2025

1946 wieder aufgeschlagen

von Peter Edel

Fünfzehn Jahre wiedererstandene Weltbühne. Fünfzehn Jahre, schwere, ereignisreiche, mit dunkler Vergangenheit abrechnende und gute zukunftzugewandte Jahre; beschrieben, kommentiert und analysiert in fünfzehnmal 52 kleinen roten Heften. Grund zum Feiern? Grund zum Nachdenken! Da liegt’s nun vor uns, aufgeblättert, ein Kompendium unserer Zeitläufte, und beim Blättern und Lesen erinnern wir uns, wann und wo und unter welchen Umständen wir dies oder das geschrieben, ob wir im wesentlichsten klar gesehen oder ob wir unsrer Sicht, um einen Terminus von S. J. zu gebrauchen, „verwolkten“ Ausdruck gaben. Darf gesagt werden, daß auf diesen Seiten, im Sinne Siegfried Jacobsohns, Carl v. Ossietzkys und Kurt Tucholskys, jene düsteren Wolken, die abermals über einem Teil unserer Heimat heraufziehen, von Anbeginn warnend signalisiert wurden? Dürfen wir sagen, daß wir unsern Teil zur Beantwortung der entscheidenden Lebensfrage beigetragen haben? Wenn uns Leser der Weltbühne in ihren Briefen bestätigen, daß wir besonders in solcher Hinsicht einiges Nützliche bewirkten, so weiß das Redaktions-und Autorenkollektiv, wem es das Fundament zu dieser selbstverständlichen Pflichterfüllung zumeist zu danken hat. Darum sollte, so meine ich, hier einmal nach fünfzehn Jahren Arbeit der Dank an alle Freunde und Kampfgefährten der Weltbühne ausgesprochen werden, die ihr mit Rat und Tat geholfen haben und weiter helfen, das Vermächtnis Carl v. Ossietzkys, der sich in leidensvollster Zeit zum „roten Banner der geeinten antifaschistischen Bewegung“ bekannte, in „seinem Namen und in seinem Geist“ zu bewahren und sein Lebenswerk fortzuführen.

Wir – ich tue das im Namen aller Mitarbeiter – danken den Repräsentanten der Sowjetunion, die vor fünfzehn Jahren im zertrümmerten Berlin der Neuherausgabe des Blattes durch Frau Maud v. Ossietzky und Hans Leonard den Weg bahnten. Wir danken Albert Norden, Alexander Abusch und dem unvergeßlichen Erich Weinert, die in den harten Anfangsjahren als der Weltbühne Förderer und Mitarbeiter deren erste Schritte in die neue Zeit lenkten oder begleiteten. Wir danken allen alten Weltbühnen-Freunden, die, wo immer sie leben und arbeiten mögen, dem „Blättchen“ ihre Gunst bewahrten, und danken besonders unseren Lesern, den alten und den jungen, die uns mit Kritik und Anerkennung halfen.

So blicken wir denn gemeinsam auf die lange Reihe der Hefte, welche etwas Geschichte dieser Jahre umschließt, vom Beginn der antifaschistisch-demokratischen Ordnung in der einstigen sowjetischen Besatzungszone bis zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik und ihrem sozialistischen Aufbau. Nützlich ist’s, in der alten wie der neuen Weltbühne, in Beiträgen über Politik, Kunst und Wirtschaft, stets als wesentlichsten Grundzug, als größtes Anliegen und Hauptthema den Kampf für den Frieden zu spüren. Nützlich ist’s festzustellen, welch erschreckende Parallelen sich da vor uns auftun, welche schmerzlich sich erfüllende Voraussagungen erkennen lassen, daß nur in einem Teile Deutschlands die Lehren aus der Geschichte gezogen wurden, während im anderen das Tun und Lassen der herrschenden Klasse wieder sichtbar machte, was Ossietzky am 2. Oktober 1930 als „Blutlinie“ bezeichnete:

„Es führt eine Linie vom Edenhotel und dem Baltikum über Kapp und O. S. weiter zu den Ministermorden, der Schwarzen Reichswehr und dem Ruhrkampf, zu den Wahlraufereien und den zerbrochenen Scheiben …“

Ja, eine Blutlinie, die weiter und immer weiter gezogen ward, hinweg über die in Flammen berstende Kuppel des Reichstags und tief hinab zu den Scheiterhaufen mit brennenden Büchern und in die hakenkreuzbesudelten Straßen, klirrend von den Scherben der „Reichskristallnacht“. Eine Blutlinie, auf der sich das Inferno des zweiten Weltkrieges anbahnte, auf der Millionen Menschen über Buchenwald und Auschwitz bis nach Stalingrad in den Tod getrieben wurden, eine Blutlinie, auf der nun ein drittes Mal die altneuen Hindenbürger und Niederlagestrategen unter „Führung“ davongekommener Kriegsverbrecher einherstampfen, als habe „Nürnberg“ nie stattgefunden!

Was in der Folge unter der Ägide des Kanzlers Adenauer im Westen Deutschlands auferstanden ist, hat schon seit langem das übertroffen, was Carl v. Ossietzky, angesichts der Brüning-Aera, mit den Worten bezeichnet hatte: „ein von christkatholischer Ethik überglänzter, straffer Militärstaat, kategorischer preußischer Imperativ mit Weihrauch und Orgelklang“, nebst den dazugehörigen Verbindungsfäden, „gesponnen zum Hauptquartier des Faschismus“.

*

Für uns Mitarbeiter der wiedererscheinenden Weltbühne galt es zu erfüllen, wofür sich Carl v. Ossietzky keineswegs erst in seinen letzten Lebensjahren unüberhörbar bekannte; es galt, sich die Erkenntnis zu eigen zu machen, der er in einem seiner nachgelassenen Artikel – geschrieben schon beim Ausgang des ersten Weltkrieges, veröffentlicht im Abschlußheft des Weltbühnenbandes 1946 – einen wahrhaft testamentarischen Ausdruck gegeben hat:

„Die Wurzel des Kriegswillens und der Kriegsgesinnung werden wir erst treffen, wenn wir die ganze geistige Atmosphäre unserer Kultur ändern. … ‚Es gilt nicht die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern.‘ In diesem Marx-Wort liegt das ganze ethische und soziale Problem unserer Zukunft eingeschlossen.“

Es ist das Programm, dessen umwälzende Kraft heute Millionen Menschen auf der großen Welt-Bühne tagtäglich durch ihr eigenes Schaffen, Denken und Kämpfen beweisen, so auch in der Deutschen Demokratischen Republik. In ihrer von Grund auf gewandelten geistigen Atmosphäre, ihrem ethischen und sozialen Aufbauwerk ist nicht ein Fußbreit Raum mehr für Kriegsgesinnung. Deren Wurzeln sind hier gerodet! Dort aber, wo sie weiter wuchern, wo sie mit NATO-Nektar getränkt, sich abermals zu drosselnden Polypenarmen auswachsen konnten, dort hat sich denn auch von Jahr zu Jahr schauerlicher bewahrheitet, was Erich Weinert schon am 15. Dezember 1946 in der Weltbühne geißelte:

Sieg-Heil! Der erste Chok ist überwunden.

Die Amnestie begießt man auf Banketts.

Und man entschädigt sich für Schrecksekunden

und sucht und findet Löcher im Gesetz.

 

Schon gehn die meisten wieder durch die Maschen.

Wie lange noch? Dann steht der Schießverein.

Denn statt das Land von Nazis reinzuwaschen,

wäscht man die ganzen Nazis wieder rein.

 

Das darf sich heut schon wieder frech vermessen

und sein Bedauern fassen ins Gebet,

daß viel zuwenig im KZ gesessen

und daß es nicht noch mal nach Moskau geht.

 

Das läßt schon wieder Meuchelmörder frei,

nach denen sie jahrzehntelang gefahndet,

als ob inzwischen nichts geschehen sei.

Doch Fahnenflucht wird immer noch geahndet.

 

Das macht, im Schatten der Vergeßlichkeit,

in seiner Klaue noch den Stil von gestern,

schon wieder sich in Leitartikeln breit,

und darf, was heut sich redlich müht, verlästern.

 

Genau so hat es damals angefangen!

Und wo es aufgehört, ist euch bekannt.

Verschlaft ihr noch einmal, die zu belangen,

dann reicht bestimmt kein Volk uns mehr die Hand.

 

Der Nazi-Schießverein steht! Auf Geheiß der gleichen „feinen Familie“ von Industrie- und Konzernkapitänen, über die von Albert Norden in der Weltbühne des Jahres 1946 gesagt wurde: sie arbeiten „diesseits und jenseits des Atlantik für die Rettung der Privilegien und ökonomischen Macht eines sozialen Kreises, der in diesem Jahrhundert bereits zwei Weltkriege herbeiführen half und der dem deutschen Volke ein drittes Mal die Rolle zuweisen möchte, die Anatole France kurz und bündig und klassisch umriß: ‚On croit mourir pour la patrie, on meurt pour des industriels‘ – man glaubt, für das Vaterland zu sterben, man stirbt für Industrielle.“

Und weil wir alle verhindern müssen und, gemeinsam handelnd, auch verhindern können, daß unser Volk, daß die Welt in ein Massensterben sinkt, deshalb fühlten wir Weltbühnenmitarbeiter uns verpflichtet, in den vergangenen fünfzehn Jahren immer wieder Anklage gegen den mörderischen Militarismus zu erheben, unnachgiebig und unermüdlich. So wie schon Ossietzky die Aktionseinheit der Arbeiterklasse als einziges Mittel gegen die Verderber Deutschlands forderte, so galten die entscheidenden Fragen, die Alexander Abusch im Jahrgang 1946 der Weltbühne unter dem Titel „Bruderkampf oder Zusammenarbeit?“ an die SPD richtete […]:

„Wem wird geholfen, wenn die Sozialdemokratie in Berlin nicht den geringsten Kampf gegen Faschismus und Reaktion führt, gegen keine der bürgerlichen Parteien kämpft, obwohl sich hinter diesen ,heimlich, still und leise die Reaktion wieder formiert‘? Wem wird auch geholfen, wenn offen und verhüllt die Waffen aus dem Arsenal von Goebbels gegen die Sowjetunion benutzt werden? Wem wird geholfen, wenn die SPD statt gegen rechts leider ohne Hemmungen und Skrupel nur gegen links kämpft? … Denkt an 1918, denkt an den Rathenau-Mord 1922, denkt an Papens Staatsstreich 1932, denkt an den Reichstagsbrand 1933,. denkt an Konzentrationslager und Exil, denkt an die heutigen Pläne und Tarnungen der Reaktion – denkt daran: Der Feind steht rechts!“

Der Feind steht rechts! Jahrzehntealt ist dieser Satz! Tausendfach erwiesen, in Carl v. Ossietzkys Artikeln dokumentiert, von Tucholsky und Weinert mit zündenden Versen und gallebitteren Polemiken weitergetragen! Und immer wieder wurde seither diese Mahnung zur Einheit auch auf diesen Seiten ausgesprochen, und so lange werden sie hier stehen, bis der rechte Feind geschlagen ist. Jetzt ist die Zeit, da seine Macht endgültig zur Neige geht. Der gewaltig vorwärtsflutende Strom befreiten neuen Lebens, Länder und Kontinente umfassend, ist nicht mehr aufzuhalten. Aufhaltsam aber sind kraft der großen Weltveränderung, die sich im Zeichen des Sozialismus vollzieht, all jene Ewiggestrigen, die keinen anderen Ausweg mehr wissen, als sich mit überführten Verbrechern zu verbünden. Deren wahnsinnigen Plänen zu wehren, die Blutlinien-Führer zu bändigen und endlich unschädlich zu machen – das gebietet die Vernunft. Ihr zum Sieg mit zu verhelfen, war und ist und wird sein die Maxime in allem Bemühen der Weltbühne. Ich habe ein paar ihrer ernsten Blätter aufgeschlagen in nur einem einzigen Band von 15 Bänden, um daran zu erinnern, wie gültig die Worte geblieben sind. Grund zum Feiern? Grund zum Nachdenken! Zum Weiterarbeiten und Weiterkämpfen!

Weltbühne, 22/1961